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Ausgabe:

Juli/August/2014

Spalte:

919–921

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Kierkegaard, Søren

Titel/Untertitel:

Ausgewählte Journale. Bd. 1. Hrsg. v. M. Kleiner u. G. Schreiber.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2013. XXXVIII, 661 S. = de Gruyter Texte. Kart. EUR 29,95. ISBN 978-3-11-028274-0.

Rezensent:

Ulrich Lincoln

Seit 2005 erscheint im Verlag Walter De Gruyter die Deutsche Søren Kierkegaard Edition (DSKE), die erste vollständige Ausgabe der Journale und Notizbücher Kierkegaards in deutscher Sprache, zu­gleich das erste groß angelegte Übersetzungsprojekt der deutschsprachigen Kierkegaard-Forschung seit der Werkausgabe von Emanuel Hirsch und Hayo Gerdes in den 1950er und 1960er Jahren. Die editorischen und philologischen Ergebnisse dieser Edition, die auf den grundlegenden Arbeiten der neuen dänischen Gesamtausgabe Søren Kierkegaard Skrifter (1997 ff.) aufbaut, sind bereits ausführlich an anderer Stelle besprochen worden (vgl. die Rezensionen von W. Dietz in ThLZ 132 [2007], 352; 135 [2010], 214, und 137 [2012], 1384). Die hier anzuzeigende Studienausgabe, die im Kierkegaard-Jubiläumsjahr 2013 veröffentlicht wurde, bietet eine Auswahl aus den bisher in vier umfangreichen Bänden veröffentlichten Texten.
Das leitende editorische Prinzip der Reihe wird auch für diese Studienausgabe beibehalten: nämlich die Aufsprengung der ur­sprünglichen Textzusammenhänge in den früheren dänischen und deutschen Ausgaben zu überwinden und die Aufzeichnungen nunmehr vollständig und in der Form und Anordnung wiederzugeben, wie sie von Kierkegaard selbst geschrieben wurden. Aus diesem Grund ist nun auch die Studienausgabe keine Sammlung der angeblich wichtigsten oder schönsten Passagen, sondern eine Auswahl kompletter Journale. Die Journale AA, DD, HH, JJ und das Notizbuch 15 werden vollständig wiedergegeben, sie stammen aus dem Zeitraum zwischen 1833 und 1846 bzw. 1849 (Notizbuch 15). Zum Vergleich: In Gerdes’ fünfbändiger Ausgabe der Tagebücher, die ebenfalls lediglich eine Auswahl ist, werden im ersten Band Texte aus der Zeit zwischen 1835 und 1844 aus einer Vielzahl von Zusammenhängen herausgenommen und unter 19 verschiedenen Kapiteln angeordnet. Man sieht in diesem Vergleich: Das editorische Prinzip der neuen Studienausgabe kann tatsächlich nur zu einer relativ begrenzten Auswahl von Texten führen, die nicht die ganze Breite der Textproduktion Kierkegaards in seinen Journalen für einen bestimmten Zeitraum repräsentieren kann. Doch ist diese Einschränkung in repräsentativer Hinsicht durch die editorische Transparenz, die Texte in ihrem ursprünglichen und vollständigen Zusammenhang darzustellen, mehr als wettgemacht. Eigenwillige und zuweilen verzerrende Anordnungen, Überschriften und Deutungen seitens der Herausgeber, wie sie für die älteren Ausgaben typisch sind, entfallen. An ihrer Stelle begegnet der Leser vollständigen Heften, die von Kierkegaard oft parallel geführt wurden. Der literarisch eigenständige Charakter der Journale bleibt erhalten, es entsteht ein anderer Lese-Eindruck. Wie fließend im Übrigen die Grenze zwischen Journal und (veröffentlichtem) Buch zuweilen ist, zeigt das Beispiel des kleinen Notizbuches 15. Überschrieben mit »Mein Verhältnis zu ›ihr‹« stellt es einen zusammenhängenden und abgeschlossenen Bericht Kierkegaards über sein Verhältnis zu seiner ehemaligen Verlobten Regine Olsen dar. Über die eigenständige Wirkungsgeschichte dieser autobiographischen Reflexion informiert die Einleitung.
Auch der erste Textkomplex in dieser Auswahl hat anfangs eher biographischen Charakter: Das Journal AA, das tatsächlich den Beginn des Tagebuch-Schreibens bei Kierkegaard markiert, setzt ein mit den Aufzeichnungen vom Sommeraufenthalt 1835 in Gilleleie. Im weiteren Verlauf dieses Journals kommen dann aber andere Themen hinzu, Notizen und Bemerkungen zu Ästhetik, Philosophie und Theologie. Dieser werkhafte Aspekt wird dann am stärksten wirksam in den beiden umfangsreichsten Textsammlungen dieser Ausgabe, den Journalen DD und JJ. Hier, ebenso wie im kleineren Journal HH, betreten wir die Werkstatt, das Labor, das Studierzimmer des religiösen Schriftstellers Kierkegaard. Es ist ein vielstrahliger Kosmos von Einzelstücken, Fragmenten, Versuchen und Anstößen, eine kreativ-dynamische Textkonstellation, die auf Verdichtung in Gestalt von Aufsätzen und Büchern drängt, ohne doch in diesen immer vollständig aufzugehen – das Journal als performance. Die Darstellungsform der Texte in der Ausgabe verstärkt diesen unruhig-schöpferischen Eindruck: Der Haupttext der Journale ist ständig begleitet von Randnotizen und späteren Kommentaren, oft aus sehr viel späteren Zeiten. »Schreiben heißt, sich selber lesen«: Dass diese Bemerkung von Max Frisch über das Schreiben von Tagebüchern unmittelbar auf die Kierkegaardsche Schreibwerkstatt zutrifft, mag man nach der Lektüre dieser Journale gerne glauben.
Die Studienausgabe zielt nach Darstellung der Herausgeber nicht (nur) auf die Fachleute, sondern will vor allem das interessierte nicht-akademische Publikum ansprechen und zur vertiefenden Lektüre der Journale in ihrem Gesamtzusammenhang einladen. Aus dieser Aufgabenstellung ergeben sich Konsequenzen: Erstens die bereits genannte unmittelbare Nähe zu Darstellungsprinzipien der akademischen Ausgabe. Zweitens stellt sich die Aufgabe, eine gut lesbare Ausgabe bereitzustellen. Die neuen Übersetzungen aus der DSKE erarbeiten in der Tat ein modernes Kierkegaard-Deutsch, das die Diktion von Hirsch/Gerdes endgültig hinter sich lässt.
Doch die Maxime der Lesbarkeit muss sich für die Studienausgabe auch in der Auswahl der Texte widerspiegeln, und die vorliegende Mischung von biographischen und werkhaft-literarischen Textgruppen ist die überzeugende Einlösung dieser Forderung. Damit einher geht ein erneuerter Blick auf den Gegenstand: Es ist nicht mehr das Leitbild einer religiösen Biographie, die durch die Auswahl der Kierkegaardschen Texte unmittelbar zur Darstellung gebracht werden kann. Stattdessen begegnet der Leser der (bruchstückhaften) Chronologie eines Autors, der im Medium des Schreibens und Lesens beständig neue Räume eines existentiellen Denkens erschließt. Kierkegaard wird sichtbar als ein produktiver Kommentator, der ganz und gar nicht immer nur an sich selbst und den Einzelheiten seiner Biographie interessiert ist, sondern in vielen Stimmen und Rollen nach Denk- und Ausdrucksformen für die intellektuellen, religiösen und sozialen Probleme seiner Zeit sucht. Die Polyphonie der gedruckten Werke findet ihr unmittelbares Echo in diesen vielstimmigen Aufzeichnungen. Da­mit ist auch der Leser zu einem polyphonen Lesen aufgefordert.
Zwei Teile der Ausgabe, die beide von DSKE übernommen werden, verdienen besondere Erwähnung: zum einen der Realkommentar, der jedem einzelnen Journalheft beigegeben ist und in seiner Ausführlichkeit und philologisch-historischen Gelehrsamkeit die Lektüre ungemein vertieft. Zum anderen die Einleitung der Herausgeber, die nicht nur über die Geschichte des Nachlasses Kierkegaards informiert, sondern auch eine lesenswerte Abhandlung über die Textgattung des Tagebuchs und ihre besondere Ge­staltung bei Kierkegaard darstellt. Auch über die terminologischen Unterscheidungen zwischen Journal und Tagebuch u. a. finden sich hier wertvolle Hinweise. Bedauerlich ist hingegen das Fehlen eines Personen- und Sachregisters; dieses würde auch dem Nicht-Spezialisten bei der Lektüre sehr zugutekommen.
Insgesamt ist hier ein preisgünstiges Buch entstanden (für die E-Book-Ausgabe zahlt man allerdings den zehnfachen Preis), dem es gelingen sollte, auf der Grundlage der neuen Kierkegaard-Philologie einem breiten Publikum frische Blicke auf diesen »Schriftsteller des Religiösen« zu erschließen, so manche verstaubten Kierkegaard-Bilder zu entsorgen und vor allem neue Texte zu eröffnen. Weitere Bände der Studienausgabe sind geplant.