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Ausgabe:

Juli/August/2014

Spalte:

900–902

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Breul, Wolfgang, u. Jan Carsten Schnurr [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Geschichtsbewusstsein und Zukunftserwartung in Pietismus und Erweckungsbewegung.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013. 378 S. m. 5 Abb. = Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, 59. Geb. EUR 79,99. ISBN 978-3-525-55842-3.

Rezensent:

Martin H. Jung

Der Sammelband basiert auf einer 2011 in Halle durchgeführten Tagung und beinhaltet 19 Aufsätze ausgewiesener Pietismusforscher und Neuzeithistoriker aus dem In- und Ausland sowie einiger Nachwuchswissenschaftler. Der zeitliche Horizont reicht vom frühen 17. Jh. bis in die Mitte des 19. Jh.s, wobei die Beiträge zum 17. und 18. Jh. unter dem Stichwort Pietismus und die Beiträge zum 19. Jh. unter dem Stichwort Erweckungsbewegung eingeordnet sind, ohne dass die Problematik dieser Aufteilung und der jeweiligen Zuordnung tiefergehend reflektiert wird. Indirekt bestätigt die Vorgehensweise aber erneut die Brauchbarkeit des weiteren Pietismusbegriffs für die Forschung. Viele Beiträge bewegen sich im Horizont von Fragestellungen, die ihre jeweiligen Verfasser schon im Kontext größerer, meist monographischer Arbeiten behandelt haben. Viele Beiträge wenden sich konkreten Personen zu. Fast alle Beiträge behandeln eine zur Thematik des Sammelbandes passende Fragestellung.
Grundsätzlichen Fragen wenden sich Hartmut Lehmann mit seinem Überblick über die »Pietismusforschung nach dem Cultural Turn« zu (13) sowie Daniel Fulda in seiner Auseinandersetzung mit dem Koselleckschen Begriff der Sattelzeit. Lehmann zeigt an sechs Beispielen, dass es sich für die Pietismusforschung lohnt, die von den Kulturwissenschaften aufgeworfenen Fragen aufzugreifen. Zum konkreten Thema ruft Lehmann in Erinnerung, dass für Pietisten »die heilsgeschichtliche Zeitperspektive der Maßstab [war], nach dem sie ihr Leben ausrichteten« (22). Fulda setzt sich mit dem Begriff der »offenen Zukunft« auseinander, den er schon (»Frühdatierung« [170]) für die Zeit um 1700 für relevant hält, und regt insbesondere eine neue Sicht der Aufklärungsepoche an. Die Aufklärung habe nicht nur zu »Öffnungen« geführt, sondern habe bereits »mit einer solchen« eingesetzt (172).
Einen interessanten, so nirgends zu lesenden Überblick über »Geschichtsbewusstsein und Geschichtsschreibung um 1700« gibt Wolf-Friedrich Schäufele. Er zeigt, wie sich das »biblisch-augustinische Geschichtsbild« (38) auflöste und sich die »Fortschrittsidee« (44) Bahn brach, wie sich die Geschichtsschreibung verwissenschaftlichte, wie sich eine »pragmatisch-immanente Geschichtsdeutung« (51) etablierte und sich die Kirchengeschichtsschreibung verselbständige und enttheologisierte. Dabei hebt er die große Bedeutung Gottfried Arnolds hervor.
Es folgen die Namen großer, für die Pietismusforschung einschlägiger Gestalten: Spener, Francke, Breckling, Böhme, Petersen, Zinzendorf, Spangenberg.
Interessant ist Wolfgang Breuls Interpretation von Franckes Reformprojekten unter eschatologischen Vorzeichen. Francke, zumindest der Francke von Halle, gilt gemeinhin nicht als Repräsentant einer pietistischen Eschatologie. Er predigte keinen Chiliasmus und spekulierte nicht über den Beginn des Millenniums. Breul interpretiert jedoch die gesamte Aufbauarbeit Franckes in Halle im Lichte von Franckes Programmschrift von 1700, dem sogenannten Großen Aufsatz, als Verwirklichung der von Spener erwarteten »besseren Zeiten« mit dem Ziel einer »weltweite[n] Besserung der Christenheit« (82). Es stellt sich dann allerdings die Frage, warum Francke in seiner gesprochenen und geschriebenen Theologie ganz andere Akzente setzte als eschatologische.
Interessant ist auch Dietrich Meyers Versuch, »eschatologische Erwartung« und sogar »chiliastische« Hoffnung (129) bei Zinzendorf und Spangenberg aufzuspüren. Auch die Brüdergemeine gilt gemeinhin nicht als besonders eschatologisch geprägt. Spektakulär war die Konfrontation Zinzendorfs mit Bengel gerade wegen dieser Frage. Meyer zeigt anhand des berühmten Erstlingsbildes sowie ungedruckter Quellen aus den Jahren 1749/50, wie Zinzendorf in diesen Jahren von einer »starke[n] eschatologische[n] Spannung« (137) geprägt war und ihn die Frage umtrieb, ob die »Zeit Jesu« (135) nicht längst angebrochen sei, natürlich in der Brüdergemeine und an den Orten ihres Wirkens.
Douglas H. Shantz wendet sich in seinem Beitrag zum radikalen Pietismus nicht nur Böhme und Petersen, sondern auch dem vergleichsweise unbekannten Conrad Bröske zu, einem Hofprediger in Offenbach, den Shantz als einen »pragmatic Chiliast« (113) identifiziert.
Im Aufsatzblock über die Erweckungsbewegung werden »Zeit- und Zukunftsdeutungen in Krisenzeiten« thematisiert (Manfred Jakubowski-Tiessen), die Brüder Leopold und Heinrich Ranke (Ulrich Muhlack), die »Erweckungsbewegung im deutschen Vormärz« (Jan Carsten Schnurr), der württembergische Millenarist Johann Jakob Friederich (Michael Kannenberg), die Mission (Judith Becker) sowie der niederländische Protestantismus (Fred van Lieburg) und es werden pietistische und »säkulare Zukunftsentwürfe« verglichen (Lucian Hölscher). Hans-Jürgen Schrader behandelt Sammelbiographien und Christine Lost Herrnhuter Lebensläufe. Wenig mit dem Generalthema zu tun hat Shirley Brückners Beitrag zur pietistischen Lospraxis am Beispiel der Zettelkasten.
Die Beiträge behandeln ein breites, umfassendes Themenspektrum, in dem man eigentlich nur die – für dieses Thema eigentlich unverzichtbaren – Namen Bengel, Oetinger und Blumhardt vermisst. Wie eine Entschuldigung am großen Schwabenvater wirkt es da, wenn das Titelkupfer aus Bengels »Erklärter Offenbarung« den Umschlag des Bandes schmückt.
Zu bedauern ist, dass die Herausgeber es nicht wagten und versuchten, einen zusammenfassenden Ertrag der Tagung und der im Druck präsentierten Forschungsbeiträge zu formulieren. Die im Vorwort angekündigte »Zwischenbilanz« (11) muss der Leser selbst ziehen, und die »Kontinuitäten und Diskontinuitäten« (11) von Pietismus und Erweckungsbewegung muss er selbst herausarbeiten. Was lässt sich zusammenfassend über das Geschichtsbewusstsein und die Zukunftserwartung im Pietismus und in den Erwe­ckungsbewegungen – ich bevorzuge den Plural – sagen? Wo gibt es neue Erkenntnisse, die Ulrich Gäblers grundlegende Erörterung des Themas in der »Geschichte des Pietismus« (Bd. 4) bestätigen, korrigieren, erweitern? Der Tagungsband bestätigt, dass neben Gesellschaftskritik und Kirchenreform die Geschichte ein für Pietismus wie Erweckungsbewegungen wichtiges Thema war, und zwar sowohl die Vergangenheit wie die Zukunft. Spannend wäre es, nun jenseits aller Spezialuntersuchungen noch einmal die ganz grundsätzlichen Fragen zu stellen: Warum ist im Pietismus ein neues, in Reformation und Orthodoxie so nicht vorhandenes Interesse an Vergangenheit und Zukunft wach geworden? Wie hat das Ge­schichtsinteresse von Pietismus und Erweckungsbewegungen ausgestrahlt auf Gesellschaft, Kultur, Literatur und Wissenschaft? Auch mit der Frage nach den Gemeinsamkeiten von Pietismus und Aufklärung und ihren Ursachen berührt sich das Thema eng.
Der Band enthält einen Orts- und Personenindex und wurde sauber redigiert, wenn man einmal von der teilweise falschen Verwendung von Apostrophen absieht. Etwas merkwürdig ist freilich die Reihenfolge, in der die Pietismus-Beiträge präsentiert werden. Weder eine chronologische noch eine alphabetische Ordnung wurde gewählt, sondern anscheinend eine Sortierung nach der Prominenz der behandelten Personen: Man beginnt mit Spener und auf ihn folgt Francke, dann geht man zurück zu Breckling, Böhme und Petersen.