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Ausgabe:

Juni/2014

Spalte:

793–795

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Schmoll, Udo G.

Titel/Untertitel:

»Die Grenze ist der eigentlich fruchtbare Ort der Erkenntnis«. Grundlegung eines fächerverbindenden Arbeitens mit dem Evangelischen Religionsunterricht am Gymnasium aus der Perspektive von Tillichs Theologie.

Verlag:

Münster u. a.: LIT Verlag 2013. 472 S. = Jugend in Kirche und Gesellschaft, 8. Kart. EUR 49,90. ISBN 978-3-643-12159-2.

Rezensent:

Michael Fricke

Die an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München im Jahr 2012 angenommene Dissertation von Udo G. Schmoll befasst sich mit dem fächerverbindenden Arbeiten aus Sicht der evangelischen Theologie und Religionspädagogik. S. entwickelt seine Fragestellung vor dem Hintergrund langjähriger Lehrerfahrung im Evangelischen Religionsunterricht und einer be­reits in Publikationen ausgewiesenen reflektierten Praxis des fächerverbindenden Arbeitens (13–17). Mit dem Ziel, fächerverbindendes Arbeiten »theoretisch reflektiert und fundiert« darzustellen, betritt er in der evangelischen Religionspädagogik Neuland (21).
Die Studie gliedert sich in drei Teile. Zunächst werden Fachgebundenheit von Unterricht sowie fächerverbindendes Arbeiten allgemein dargestellt (28–126). Als schul- und bildungstheoretische Gründe für die Fachlichkeit erarbeitet S. die Reduzierung von Komplexität, das Vertrautwerden mit den Anforderungen, Systematiken und Methoden des jeweiligen Fachs, den Bezug zur Fachwissenschaft sowie schulorganisatorische Aspekte. Fachlichkeit hat die positive Funktion der spezifischen Konstruktion von Wirklichkeit. S. reflektiert, dass die Fachgebundenheit ein historisches und soziales »Produkt« (70) und damit auch veränderbar ist.
Die Reduktion von Komplexität versperre jedoch den Blick auf das Ganze bzw. reale Lebenssituationen (74 f.). »Der Preis für ein niveauvolles Lernen in Fächern, die sich an den Wissenschaften orientieren, ist ein parzelliertes Wissen« (ebd.). Schüler fragten jedoch danach, »wie sich die einzelnen Systeme, Sprachwelten und Kulturen zueinander verhalten« (76). S. entfaltet verschiedene Ansätze, die fächerverbindendes Arbeiten begründen (bildungstheoretische und kritisch-konstruktive Didaktik, Lerntheorie, Konstruktivismus, systemische Theorie, Lernpsychologie). Ziele des fächerverbindenden Arbeitens sind die »Wahrnehmung des Ganzen« sowie die »Steigerung der Handlungsfähigkeit« (115 ff.). S. sieht fächerverbindendes Arbeiten nicht als »Allheilmittel« an, im Gegenteil: Fächerverbindendes Arbeiten »setzt die Existenz der Fächer voraus« (119). Wenn man nur »fächeraussetzend« lehrte, würde man »Versatzstücke« diverser Wissensgebiete »zusammenkleben«, ohne »den theoretischen Hintergrund einer Sache mit zu bedenken« (ebd.).
Die Analyse empirischer Studien gibt Aufschluss über die Praxis des fächerverbindenden Arbeitens an Gymnasien. Es sei zu erkennen, dass »Theorie und Praxis auseinandergehen« (123). Anhand der Daten folgert S., dass dies »zu einem Gutteil an der mangelnden Ausbildung« in Universität und Referendariat liegt (125).
Der zweite Teil (127–345) erkundet in historisch-systematischer Weise, wie fächerverbindendes Arbeiten aus theologischer und religionspädagogischer Sicht begründet und konzeptualisiert werden kann. S. wählt dazu die »Kulturtheologie« (25) Tillichs. Es sieht Tillich als »interdisziplinären Grenzgänger« (130), der mit der Korrelationsmethode Fragen der Menschen und Antworten der Theologie vermittelt. Kultur solle weder autonom noch heteronom, sondern theonom sein. S. rekonstruiert Tillichs Erziehungstheorie u. a. an­hand der neu publizierten Vorlesung über Sozialpädagogik (1929/ 1930) und arbeitet »Begegnung« als zentralen Begriff heraus (184–193). Schließlich referiert S. die in kleineren Schriften vorliegenden »Aussagen zum Religionsunterricht« (198–216). Mit Hilfe der Tillichschen Kategorien erarbeitet S. das von ihm favorisierte »theonome Modell« des fächerverbindenden Arbeitens (265–273), bei dem »Einheit und Verschiedenheit« der Fächer analog zur Trinitätslehre zur Geltung kommen. Die Fächer müssen autonom bleiben, aber gleichzeitig muss über das Thema hinaus »ein ge­meinsamer Bezugspunkt gesucht und gefunden werden« (265), so dass der »bedingte« Sinn des Fachs zusammen mit denen der anderen auf einen »unbedingten Sinn« verweist (266). Die Begründung für fächerverbindendes Arbeiten liegt also darin, »dass alles eine religiöse Dimension hat« (300). Eine weitere theologische Begründung ist, dass »das ganze Leben zum Thema des Religionsunterrichts werden kann« (303).
S. rekapituliert die wesentlichen reformatorischen Aussagen zu Bildung und Glaube und skizziert historische Linien über Comenius sowie Schleiermacher bis in die Religionspädagogik der Neu-zeit. Sein Fazit: Die protestantische »Kultur der Kommunikation« (Zschoch, 318) sei grundlegend für den Ansatz des fächerverbindenden Arbeitens. Das evangelische Bildungsverständnis achte je­doch das Weltliche als einen Bereich, »der nicht religiös und auch nicht quasireligiös normiert werden darf« (341).
Der dritte Teil (346–421) konkretisiert fächerverbindendes Lernen am Thema »Geld«. S. untersucht die Relevanz des Themas auf Schülerebene, seine Gegebenheit im Lehrplan aller Fächer, entfaltet theologische, d. h. exegetische, kirchengeschichtliche und systematische Einsichten und schlägt einen Kanon von Kooperationsthemen des Religionsunterrichts mit Fächern wie Geschichte, Wirtschaft und Recht, Geographie, Sozialkunde, Deutsch, Moderne Fremdsprachen, Naturwissenschaften, Kunst, Musik und Sport vor.
Zur Diskussion: 1. Die Gründe für Fachlichkeit und fächerverbindendes Arbeiten werden überzeugend herausgearbeitet. Be­merkenswert ist die Kluft zwischen der allgemein erkannten Notwendigkeit des fächerverbindenden Arbeitens und der geringen Umsetzung in der Praxis. S.s Forderungen zur entsprechenden Änderung der Lehrerbildung kann man folgen, wenn auch das Referendariat aus organisatorischen Gründen der bessere Ort sein wird als das Studium. Es müssten hier m. E. noch grundsätzliche Schwierigkeiten reflektiert werden: Die Angst vor inhaltlicher und organisatorischer Überforderung. Diese kann nur abgemildert werden, wenn fächerverbindendes Arbeiten nicht mehr nur auf Lehrerebene individuell entschieden wird, sondern strukturell Räume geschaffen werden, in denen fächerverbindendes Arbeiten problemlos stattfinden kann. Wissenschaftspropädeutische und Projekt-Seminare der gymnasialen Oberstufe (Bayern) sind hier vielversprechend.
2. S. ist der Auffassung, dass Tillichs Kulturtheologie »sich als Ansatzpunkt in besonderer Weise dazu eignet« (25), fächerverbindendes Arbeiten zu begründen. M. E. liegt (neben Tillichs Konzept der »Begegnung«) vor allem in S.s Aufarbeitung der reformato-rischen Grundimpulse im Sinne einer Kultur der Kommunikation mehr Potential als in Tillichs »theonomen« Modell, weil Welt Welt bleiben kann, ohne religiös vereinnahmt zu werden und auch der bzw. das Nicht-Religiöse Platz hat (vgl. Bertelsmann Religionsmonitor). An S.s Darstellung ist zu monieren, dass Tillichs Äußerungen zum Religionsunterricht nicht historisch genauer eingeordnet werden: Zu welchem Anlass hat er die Werke verfasst? Auf welche Form religiöser Erziehung und Bildung bezieht er sich: auf den Religionsunterricht an einer öffentlichen Schule oder auf religiöse Erziehung und Bildung im kirchlichen Feld?
3. Wünschenswert wäre eine Reflexion darüber, wie schul- und bildungstheoretische Begründungen grundsätzlich zu den theologisch-religionspädagogischen stehen. Reichen jene aus, um den Religionsunterricht auf die neue Spur zu setzen, oder müssen die Gründe dafür auch theologisch »abgesichert« sein? Wäre umgekehrt fächerverbindendes Arbeiten im Religionsunterricht auch vorstellbar, wenn es keine schul- und bildungstheoretischen Be­gründungen dafür gäbe?
4. Die Konkretion zum Thema »Geld« ist didaktisch reflektiert und regt an »loszulegen«. Allerdings kann der Rezensent nur die theologischen Erörterungen fachlich beurteilen, nicht aber, und das ist die Krux beim fächerverbindenden Arbeiten, die interdisziplinären Ausführungen.
Das Buch gibt viele Anstöße zum Weiterdenken und sei allen empfohlen, die fächerverbindend arbeiten möchten.