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Ausgabe:

Juni/2014

Spalte:

784–786

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Kunz, Ralph, u. Claudia Kohli-Reichenbach [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Spiritualität im Diskurs. Spiritualitätsforschung in theologischer Perspektive.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2012. 268 S. = Praktische Theologie im reformierten Kontext, 4. Kart. EUR 32,30. ISBN 978-3-290-17640-2.

Rezensent:

Dorothea Greiner

Dieses Buch bleibt bewusst auf der wissenschaftlich-theologischen Metaebene, zielt also nicht direkt auf die Einübung in christliche Spiritualität und dient ihr doch. Die Notwendigkeit der Reflexion (christlicher) Spiritualität sowohl für die wissenschaftliche Theologie als auch für die kirchliche Praxis erschließt sich im Zuge der Lektüre. Alle Artikel sind zugleich wissenschaftlich fundiert und gut lesbar.
Klaus Raschzoks Beitrag ist ein Plädoyer für »Evangelische Aszetik« als Teildisziplin der Praktischen Theologie, für eine aszetische Perspektive der Theologie insgesamt und für eine – für Wissenschaft und Kirche notwendige – »Didaktik des geistlichen Lebens« (35). In seinen neun Thesen, die für das Arbeiten an dem von ihm gegründeten Institut für Evangelische Aszetik an der Augustana-Hochschule leitend sind, nimmt er die ausführlich dargestellten aszetischen Ansätze von Bohren und Seitz auf und führt sie zusammen.
Zwar ist gemäß der von Papst Johannes Paul II. veröffentlichten Apostolischen Konstitution Sapientia Christiana (Art. 51) Spiritualität Pflichtfach in der katholischen Theologie, doch Profil und Ort des Faches sind nach Simon Peng-Keller äußerst uneinheitlich. So schlägt er systematisierende Schneisen in das innerkatholische Feld einer »Theologie der Spiritualität«. Janet Ruffin stellt dar, wie sich (katholische) Christliche Spiritualität in Amerika zu einer wissenschaftlichen Disziplin entwickelt hat. Dabei hatten große historische Editionen christlich-spiritueller Texte eine befördernde Wirkung. Gerade interdisziplinär aufgestellt und verankert im Christentum ist nach Ruffin das Studienfach Christliche Spiritualität in den USA ein wichtiger Dialogpartner für diverse Spiritualitätsstudien, die sich gegenwärtig jenseits christlicher Grundlegung explosionsartig vermehren (70).
Christian Möller zeichnet kurz und präzise einen grundlegenden Zug reformatorischer Spiritualität: Die »tiefe Diesseitigkeit« gelebten Glaubens mit »Begeisterung für das Alltägliche« (77), doch ohne Glorifizierung des Normalen (79). Sie löst sich auch nicht auf in einer »platten und banalen Diesseitigkeit«, sondern findet ihre Gestalt – bei Luther etwa in der Beichte und in Zuwendung zu den eigenen Kindern oder bei Bonhoeffer in der »Freude an der täglichen Losung«, an Paul-Gerhardt-Liedern und im Tun des Gerechten.
Kompliment den Herausgebern, dass sie auch der theologischen Reflexion übersinnlicher Gotteserfahrungen Raum geben! Corinna Dahlgrün bietet zentrale schriftgemäße Kriterien sowohl für die – bei solchen Erfahrungen notwendige – discretio als auch für Christliche Spiritualität insgesamt. (Lediglich das sechste Kriterium für die discretio erscheint mir nicht ausgereift: Manifestationen des Heiligen beinhalten nicht immer einen Befehl oder eine Anweisung.)
Pierre Bühler will mit seinen Gedanken über das Hendiadyoin »Witz und Geist« keine fertige Spiritualität des Humors liefern. Unter Aufnahme zahlreicher Autoren, von Aristoteles über Luther und Kierkegaard bis hin zu Arthur Koestler, kann er dem Humor eine geistliche Seite abgewinnen – insbesondere in der Distanznahme zum Vorfindlichen oder in der Kollision des Ungleichen (Bisoziation) –, indem Humor zu einem befreiten und befreienden Umgang mit der Wirklichkeit menschlichen Lebens verhilft.
Brigitte Enzner-Probst beschreibt bildhaft und klar die seit der Aufklärung wirksame problematische Diastase zwischen Herzenswissen und wissenschaftlichem Arbeiten. Dem Auseinanderfallen von Glauben und Wissen entgegenwirken sollen Studienberatung und systemische Didaktik. Darüber hinaus soll das Fach Aszetik oder Spiritualitätswissenschaft der »Ort sein, wo die Mitte unseres Theologietreibens deutlich wird, das Ziel, warum wir Theologie studieren« (124).
Peter Zimmerling benennt Gründe und konkrete Vorschläge für die »Integration der Spiritualität in das Theologiestudium« sowie Inhalte und Ziele solchen Studiums. Sein Aufsatz beinhaltet eine Fülle markanter Aussagen, wert zur Rezeption für Lehrende und Studierende der Theologie, Religionslehrer und Pfarrer. Spiritua-lität ist nach Zimmerling nicht in einem Fach zu lokalisieren, sondern – wie im Leipziger »Studium spirituale« – der »heimliche Fluchtpunkt aller theologischen Arbeit« (138).
Sabine Hermission hat in einer »qualitativ-empirischen Analyse« die im deutschsprachigen Raum bestehenden »Modelle zur Förderung von Spiritualität im Vikariat und kirchlicher Studienbegleitung« erhoben. Die Stärke dieses Artikels liegt in der systematisierten Deskription.
Lieven Boeve unterscheidet hilfreich strukturelle Prozesse der Enttraditionalisierung, der Individualisierung und Pluralisierung von Strategien wie Relativismus, Individualismus und Pluralismus. Seine »Theologie der Unterbrechung« (170) wirkt in der Kürze des Aufsatzes zwar konstruiert, doch macht sie Mut, einer Selbstrelativierung des christlichen Glaubens, so genannten »Etwas-ismen«, entgegenzutreten. Seinen steilen Weg Negativer Theologie muss man dabei nicht völlig mitgehen.
Sabine Bobert beschreibt die postmoderne Offenheit für Spiritualität in Naturwissenschaften und Medien, Psychotherapie und Coaching. Sie knüpft bei der Meditationsforschung an mit ihrem Ansatz »Mystik und Coaching mit MTP Mental Turning Point« (193). Gerade weil solche methodischen Ansätze zur Einübung in christliche Spiritualität für die Kirchen wichtig sind, bedürfen sie aber m. E. zusätzlich zum gegebenen Christusbezug einer expliziten theologischen Kriteriologie.
Claudia Kohli Reichenbach macht auf Michel de Certeau SJ († 1986) aufmerksam, von dem einzelne Werke erst 2009/2010 ins Deutsche übersetzt wurden. De Certeau rekurriert auf Mystiker des 16./17. Jh.s, doch nicht wie andere auf ihre mystischen Zustände, sondern auf Sprache und Inhalt, mit denen sie den Gottesverlust und ihre Sehnsucht nach dem abwesend anwesenden Geliebten ausdrücken. Ihn aufnehmend formuliert die Vfn. insbesondere »gendersensible« Forschungsdesiderate (206).
Ralph Kunz verdeutlicht exemplarisch am Thema Altersspiritualität die Notwendigkeit, Leitprämissen der am Diskurs beteiligten Wissenschaften zu hinterfragen (219). Die von Kunz ins Positive gewendete Kritik Foucaults an der Seelsorge im Begriff der Selbstsorge ist gleichsam Beispiel für das von ihm geforderte Ringen, »Anschlussstellen (und Bruchstellen) zwischen dem theologischen und dem humanwissenschaftlichen Spiritualitätsdiskurs« (224) zu identifizieren. Fundiert plädiert er dafür, den Spiritualitätsdiskurs als Form der Geisterunterscheidung (226) zu pflegen und das christliche Verständnis von Spiritualität als »lebendiges Gegenüber« (212) und als von Gottes Geist geschenkt in den Diskurs einzubringen.
In Traugott Rosers Ausführungen leuchtet ein, dass Spiritualität als systemischer Begriff bzw. Kollektivbegriff gerade dann für Forschung und Praxis (Palliative Care) taugt, wenn er unscharf bleiben darf. Allerdings frage ich, ob ein »prinzipiell anthropologischer Ansatz« »vor den Übergriffen sowohl des Gesundheitswesens als auch von Religionsgemeinschaften« schützt (238). Die erhoffte prinzipielle Unverfügbarkeit und notwendige Freiheit bedarf m. E. der Verankerung der Spiritualität auch in pneumatologischen Kategorien.
Nach Darstellung erstaunlicher empirischer Studien, die eine eklatante salutogene Wirkung der Religiosität (insbesondere mit öffentlich religiöser Praxis bzw. Gottesdienstbesuch) belegen, plädiert René Hefti, Chefarzt für Psychosomatik, für ein Spiritual-Care-Modell, in dem die Seelsorge im interdisziplinären Behandlungsteam gleichwertiger Partner ist.
Mit seinen 15 Aufsätzen ist dieses instruktive, impulsgebende Buch selbst, wofür es plädiert: »Spiritualität im Diskurs«.