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Ausgabe:

Juni/2014

Spalte:

780–781

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Hammer, Georg-Hinrich

Titel/Untertitel:

Geschichte der Diakonie in Deutsch­land.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2013. 382 S. m. 39 Abb. Kart. EUR 29,90. ISBN 978-3-17-022999-0.

Rezensent:

Heinz Schmidt

Seit Gerhard Uhlhorns Buch Die christliche Liebestätigkeit (21895) hat nur noch Heinz Vonhoff eine umfassende Darstellung der Diakoniegeschichte (Geschichte der Barmherzigkeit, Stuttgart 1987) gewagt. Diese hatte allerdings eher erbaulichen Charakter. Georg Hinrich Hammer, ehemals Vorsteher der diakonischen Stiftung Friedehorst in Bremen, hat es sich daher zur Aufgabe gemacht, erneut eine Geschichte der Diakonie in Deutschland vorzulegen, die den Ergebnissen der diakoniegeschichtlichen Forschung von mehr als 100 Jahren Rechnung trägt, ohne durch ein zu detailliertes Nachzeichnen der Forschungswege (und -hypothesen) interessierte Leser zu überfordern.
H. will in erster Linie informieren, wie das höchst vielfältige und ausgedehnte Gebilde der deutschen Diakonie zustande gekommen ist, das heute als umfassendes Hilfesystem ein wesentlicher Teil des Sozial- und Gesundheitswesens (sicherlich nicht »das Rückgrat«, wie der Klappentext sagt) in Deutschland ist. Die Informationsabsicht verbindet sich mit einem durchweg spürbaren Engagement für eine starke und vielfältige Diakonie, die sich mutig den jeweils aktuellen Herausforderungen stellt und sich von Problemlagen und Impulsgebern immer wieder zu Veränderungen herausfordern lässt. Das Interesse H.s gilt nicht der diakoniegeschichtlichen Forschung per se, sondern der Orientierung und Ermutigung seiner Leser, freilich durch ein wissenschaftlich verantwortetes Bild ihrer Geschichte, das auch ein Wissen um Fehlentwicklungen und Schwächen gegenüber Jesu Beispiel und Auftrag (so 17) einschließt. Dieser Absicht wird das Buch voll gerecht.
Nach einem kurzen Verweis auf den Umfang diakonischer Arbeit in Deutschland zeichnet H. unter dem Titel »Anstoß und Inspiration« das hilfebezogene Reden und Handeln Jesu nach, das diesen »zum steten Impulsgeber helfenden und heilenden Handelns« (17) werden ließ. Leider erwähnt er nicht die schon im Alten Testament erkennbaren helfenden Strukturen und auch nicht die soziale Praxis im zeitgenössischen Judentum, abgesehen von einem Hinweis auf das Liebesgebot, das Jesus aufnimmt und radikalisiert. Das Kapitel »Die Diakonie in den ersten Jahrhunderten« demonstriert die Wirksamkeit dieses Grundimpulses in der frühen Kirche. Unter dem Titel »Institutionen sichern die Nachhaltigkeit der Hilfe« kommen die kirchlichen Ämter, die Klöster, Spitäler und öffentlichen Institutionen in den Blick, die bis ins ausgehende Mittelalter als Träger christlicher Hilfe in Erscheinung traten. Die Grenzen und Defizite christlicher Wohltätigkeit werden – nach Ansicht H.s – immer wieder durch »neue Impulsgeber« (z. B. Überschrift, 46) aufgezeigt und überwunden. Das Wirken von Martin von Tours, Severinus, Franz von Assisi, Elisabeth von Thüringen, der von diesen inspirierten Gemeinschaften sowie der Johanniter, der Deutschen Ritter, der Lazariter u. a. samt der durch sie entstandenen Hospitäler ist daher anschaulich geschildert. Es fehlt auch nicht eine Darstellung der Massenarmut im 14. und 15. Jh. und eine Erörterung ihrer Gründe, die u. a. die Elemente der kirchlichen Lehre aufzeigt, die diese Armut begünstigten bzw. ihrer Überwindung entgegenstanden. Aus dieser gewiss vertretbaren Sicht einer Art Dialektik von Personen und Institutionen hinsichtlich der Entwicklung der sozialen Verhältnisse gewinnt die Darstellung ihre Dynamik, die immer wieder zum Weiterlesen motiviert.
Die Spannung von Personen und Institutionen war auch für die christliche Liebestätigkeit von der Reformation bis ins 19. Jh. kennzeichnend. Daher treten hier zunächst die Personen – Luther, Bu­cer, Zwingli und Calvin im 16. Jh. sowie Spener, Francke, Graf von Zinzendorf und Oberlin im 17. und 18. Jh. – in den Vordergrund. Ihnen treten das evangelische Pfarrhaus und im 19. Jh. auch die Ge­meindediakonie als tragende Institutionen christlichen Hilfehandelns gegenüber. Dass das evangelische Pfarrhaus durch die Reformation zu einer bedeutenden und nachhaltig wirksamen Hilfe-institution wurde, war zwar bisher schon bekannt, wurde oft aber nur nebenbei erwähnt. Auch wurde nicht erkannt, dass es zeit-weise die einzige noch wirksame helfende Institution war, bevor sich im 19. Jh. auf Vereinen basierende Hilfeeinrichtungen und da­nach auch sozialstaatliche Einrichtungen etablieren konnten.
Einen Schwerpunkt des Buches bildet verständlicherweise die »Diakonie im Jahrhundert der Inneren Mission« (127–206), die H. – wegen der Bedeutung sozialpädagogischer Institutionen durchaus angemessen – mit Pestalozzi (1746–1827) und Falk (1768–1826) beginnen und mit Friedrich von Bodelschwingh (1831–1910) und Friedrich Zimmer (1855–1919) – wegen der damals schon erkennbaren Notwendigkeit einer Differenzierung des Hilfehandelns und der helfenden Berufe – enden lässt. Dazwischen finden sich naturgemäß alle großen Namen der diakonischen Gründergeneration, außer Friederike und Caroline Fliedner nur Männer, was auch belegt, wie sehr der neue diakonische Aufbruch dem Gesellschaftssystem des 19. Jh.s verhaftet blieb. Diesen Aspekt behandelt H. in den Unterkapiteln über den »Central-Ausschuss der Inneren Mission« (185 ff.) und die »Förderung durch Regenten« (196 ff.) und stellt die Frage, ob dieser Aufbruch als »Stützung des Gesellschaftssystems oder [als] Dienst am Menschen in der Nachfolge Jesu« zu beurteilen sei. In der weiteren Darstellung bis in die 1980er Jahre, die dankenswerterweise auch die Zeit des Nationalsozialismus und die Diakonie in der DDR hinreichend detailliert behandelt, dominiert verständlicherweise die institutionelle und verbandliche Perspektive, H. bezieht aber auch die oft vernachlässigte Gemeinde- und Pfarrhausdiakonie (327–333) ein. Die beiden Schlusskapitel »Ein Prozess vielfacher Veränderung« (334–358) und »Mal sehn, was geht« (353–355) skizzieren kurz und informativ die Herausforderungen und Problemlagen, vor die sich die diakonischen Einrichtungen, Verbände und Mitarbeiter aufgrund der (europa-)politischen, gesellschaftlichen und sozialwirtschaft-lichen Entwicklungen gestellt sehen. Das durchgehend spürbare Engagement für eine starke, gesellschaftlich wirkmächtige Diakonie veranlasst H. konsequenterweise, eine radikale Armutsorientierung (im Sinne von Steffen Fleßa, Arme habt ihr allezeit, 2003) zugunsten einer »in unserem Gesellschaftssystem gemeinnützig organisierten Diakonie« (352) abzulehnen.
Heinrich Bedford-Strohm (vgl. in: Position beziehen: Perspektiven einer öffentlichen Theologie hrsg. v. Michael Mädler u. a., Claudius-Verlag München 2013) hat jüngst dieses Konzept als »öffentliche Diakonie« expliziert und damit den Intentionen H.s gewiss entsprochen, der mit seinem lesenswerten und informativen Buch die geschichtlichen Hintergründe einer solchen Diakonie ausgeleuchtet und gleichzeitig ein Werk vorgelegt, das auch die spezialisierte Diakoniegeschichtsforschung zu positiven wie auch kritischen Reaktionen veranlassen wird.