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Ausgabe:

Juni/2014

Spalte:

763–765

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Raters, Marie-Luise

Titel/Untertitel:

Das moralische Dilemma. Antinomie der praktischen Vernunft?

Verlag:

Freiburg u. a.: Verlag Karl Alber 2013. 464 S. = Praktische Philosophie, 87. Geb. EUR 49,00. ISBN 978-3-495-48572-9.

Rezensent:

R. leistet mit ihrem Buch einen wichtigen Beitrag zur aktuellen Ethikdebatte, indem sie moralische Dilemmata ernst nimmt und pragmatische Lösungen jenseits der eingefahrenen Wege traditioneller ethis

Das Problem moralischer Dilemmata ist ein viel diskutiertes Thema der analytischen Ethik, was sich an der großen Zahl von Publikationen im angelsächsischen Sprachraum zeigt. Hierzulande wurde diesem Thema bisher allerdings nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Umso erfreulicher ist es daher, dass Marie-Luise Raters dieses Thema aufgreift und in ihrer Monographie vertieft darstellt. R. gibt einen fundierten Überblick über die Geschichte des Problems, wobei am Beispiel der Protagonisten der Debatte Sir David Ross, Richard M. Hare, Bernard Williams und Thomas Nagel und ihrer Arbeiten die wichtigsten und meist beachteten Lösungsvorschläge kritisch diskutiert werden. Im letzten Kapitel ihres Buches stellt R. ein Verfahren vor, wie man in der Angewandten Ethik mit moralischen Dilemmata umgehen kann.
R. macht gleich zu Anfang die Bedeutung und Brisanz des Problems deutlich: Es handelt sich hierbei nicht um irgendeine akademische Streitfrage, vielmehr rütteln moralische Dilemmata an den Grundfesten ethischer Theorien, indem sie die Rationalität ethischen Argumentierens und Urteilens in Frage stellen. Es geht nämlich um die Frage, »ob die Moralphilosophie ihren Anspruch aufgeben muss, vernünftige Systeme vernünftiger Handlungsorientierung für vernünftige Akteure entfalten zu können, wenn sie die Möglichkeit des moralischen Dilemmas nicht ausschließen kann« (39). Für die Angewandte Ethik hätte dies zur Konsequenz, dass sie den Handelnden keine Ratschläge geben kann, was sie in einer moralischen Konfliktsituation tun sollen. R. stellt daher die folgende Leitfrage in den Mittelpunkt ihrer Arbeit: »Was würde es für die Moralphilosophie sowie für die Angewandte Ethik und die individuellen moralischen Akteure bedeuten, falls sich herausstellen sollte, dass die Möglichkeit von praktischen Konflikten nicht ausgeschlossen werden kann, bei denen man nach intensiver Re-flexion die Diagnose ›reales teuflisches reines moralisches echtes Dilemma‹ stellen muss?« (87 f.)
Ein »reales teuflisches reines moralisches echtes Dilemma« liegt vor, wenn sich ein Akteur vor die Situation gestellt sieht, zwischen zwei sich ausschließenden Handlungsalternativen entscheiden zu müssen, für die jeweils gewichtige Gründe sprechen. Ein moralisches Dilemma wird daher gerne mit der Situation von Buridans Esel verglichen, der sich nicht zwischen zwei Heuhaufen entscheiden kann. Logisch betrachtet gewinnt ein moralisches Dilemma dadurch an Brisanz, dass es formal einen Widerspruch zwischen zwei Normsätzen darstellt, aus dem bekanntlich – ex falso sequitur quodlibet – Beliebiges folgen kann.
Die Geschichte moralischer Dilemmata in der Ethik des 20. Jh.s wird von R. in systematischer Absicht dargestellt, um Lösungsmöglichkeiten auszuloten und zu diskutieren. Dabei können im Wesentlichen drei verschiedene Optionen und Positionen unterschieden werden: Die erste Position leugnet die Existenz echter moralischer Dilemmata. Diese Position geht auf Thomas von Aquin und Immanuel Kant zurück. Nach Kant können sich Pflichten nicht widersprechen (obligationes non colliduntur), weshalb Pflichtenkollisionen immer nur scheinbare Dilemmata darstellen und nur ein Verpflichtungsgrund handlungsleitend wirken kann. In ähnlicher Weise argumentiert Ross: Für ihn kann bei einer Pflichtenkollision eine der beiden Pflichten nur prima facie gelten.
Andere Philosophen leugnen die Möglichkeit moralischer Di­lemmata nicht, sind aber der Auffassung, dass sie sich durch kritisches Denken lösen lassen und dass es bei sich widersprechenden Normen stets eine vernünftige Lösung gibt. Eine solche Position wird z. B. von Richard M. Hare vertreten. Er führt die Kunstfigur des moralischen Erzengels ein, der mit übermenschlichen Fähigkeiten und Kenntnissen begabt ist und somit die Präferenzen aller Betroffenen kennt und zwischen ihnen abwägen kann. Für einen Erzengel ist ein moralisches Dilemma daher stets lösbar, während sich ein gewöhnlicher Mensch, der nicht über die Geisteskräfte eines Erzengels verfügt, letztlich auf seine – zugegebenermaßen fehlbare – moralische Intuition verlassen muss.
Nach der dritten, wesentlich skeptischeren Haltung gibt es keine systematischen Strategien zur Lösung oder Vermeidung moralischer Dilemmata. Hier verweist R. auf die Arbeiten von Thomas Nagel und schließt sich seiner skeptischen Position an, nach der es unauflösbare Normenkonflikte gibt. Der Anspruch der Moralphilosophie auf deduktive Konsistenz lässt sich nicht mehr aufrechterhalten, aber es lassen sich pragmatische Lösungen entwickeln, die den Widerspruch zwischen den konfligierenden Normen zwar nicht beseitigen können, aber Wege aufzeigen, wie man im Konfliktfall zu einer »wohlbegründeten Entscheidung« gelangen kann, so dass die Ethik auch weiterhin eine Handlungsorientierung für moralische Akteure bieten kann.
Am Beispiel des sogenannten »Neugeborenen-Dilemmas« wird ein praktisches Schema vorgeschlagen, wie man in einem Konfliktfall Handlungsgründe abwägen und eine Entscheidung treffen kann. Bei dem Neugeborenen-Dilemma handelt es sich um den Fall schwerstbehinderter Säuglinge, die unter starken Schmerzen leiden und die nur mit einem hohen medizinischen Aufwand am Leben erhalten werden können. Bei diesem Dilemma stehen das Mitleid der Eltern und der Wunsch, ihrem Kind Leiden zu ersparen, gegen das Lebensrecht des Neugeborenen und die Hilfspflicht der Ärzte und Eltern. Es liegt in R.s Terminologie ein »teuflisches echtes reines reales moralisches Dilemma« vor, bei dem drei Handlungsoptionen offen stehen: Entweder bricht man jede medizinische Behandlung ab und lässt das Kind sterben (passive Sterbehilfe) oder man setzt die Behandlung fort und gibt dem Kind jede mögliche Hilfe oder man leistet aktive Sterbehilfe und tötet das Kind. R. verwirft die dritte Option, überlässt aber die Entscheidung zwischen der ersten und zweiten Option den Eltern. Dabei werden neben der Berücksichtigung geltender Normen auch subjektive Sichtweisen einbezogen. Es wird nach eingehender Beratung den betroffenen Eltern selbst überlassen, ob sie ihr Kind sterben lassen oder die medizinische Behandlung fortsetzen wollen.