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Ausgabe:

Juni/2014

Spalte:

757–759

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Böhl, Meinrad, Reinhard, Wolfgang, u. Peter Walter [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Hermeneutik. Die Geschichte der abendländischen Textauslegung von der Antike bis zur Gegenwart. Dichtung – Bibel – Recht – Geschichte – Philosophie.

Verlag:

Wien u. a.: Böhlau 2013. 612 S. Geb. EUR 69,00. ISBN 978-3-205-78849-2.

Rezensent:

Kathrin Gies

Die Hermeneutik ist die mentale Lebensform des Abendlandes. Das »Abendland« ist die Größe, die sich durch Übersetzen aus der Ur­sprungs- in die eigene Sprache und Übersetzung aus dem ursprünglichen in den gegenwärtigen Kontext über Jahrhunderte die antiken, jüdischen und christlichen Quellen als Grundlage der eigenen Kultur erschlossen hat. Wer sich der eigenen abendländischen Identität versichern und sich im interkulturellen Gespräch vorstellen will, muss von der Geschichte der Hermeneutik als Theorie des Verstehens und als Methode der Textauslegung Auskunft geben können. – So stellt sich der Ausgangspunkt des groß angelegten Projekts »Hermeneutik. Die Geschichte der abendländischen Textauslegung von der Antike bis zur Gegenwart« dar.
Entstanden ist der Sammelband in einem zweistufigen Entstehungsprozess, dessen Gesamtkonzeption bis in die Jahre 1997–1999 zurückreicht. In einer ersten Phase 1999–2000 arbeiteten Martin Corzillius, Harald Haury und Arne Moritz im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Projekts »Hermeneutik interkulturell – intrakulturell – transkulturell. Muster des Übersetzens und Auslegens in sieben Kulturen und ihre historische Bedeutung« des Freiburger Sonderforschungsbereichs 541 »Identitäten und Alteritäten« an ihren Beiträgen. Diese wurden 2008–2012 von Meinrad Böhl, Matthias Jung und Magnus Schlette unter Förderung der Gerda Henkel Stiftung und Unterstützung des Max-Weber-Kollegs der Universität Erfurt weitergeführt und ergänzt.
Dem Anspruch, den jeweiligen Stand der Forschung wiederzugeben, kann in den aus der ersten Arbeitsphase stammenden Beiträgen nur schwer entsprochen werden. Als »Erträge der jüngeren Forschung« werden Publikationen von 1974 oder 1992 angeführt (152.156 u. ö.). Oder man begnügt sich mit dem Hinweis, dass etwas »in der Forschung noch immer umstritten« sei (155). Im Bereich »Bibel« wird auf gängige Gesamtdarstellungen wie z. B. Reventlow 1994; Körtner 2006; Lang 1994 und diverse TRE- und LThK-Artikel zurückgegriffen.
In praktischer Hinsicht wären zur besseren Einordnung eine Kurzvorstellung der Autoren und ein nach den fünf Fachbereichen gegliedertes Literaturverzeichnis wünschenswert gewesen.
Die Annäherung an eine Geschichte der abendländischen Hermeneutik erfolgt auf fünf »Pfaden«, die auch gleichzeitig die fünf Hauptkapitel des Sammelbandes bilden. Die Begründung erfolgt lapidar: »Dichtung und Bibel, Recht und Geschichte bedürfen der Auslegung […]. Auch die Texte der Philosophen sind auslegungsbedürftig.« (11). Dass eine Reflexion über Auslegung und Auslegungsregeln, die Hermeneutik als eigenständige Theorie, explizit erst seit dem 17. Jh. betrieben wird, werde durch den Tatbestand relativiert, dass die Praxis der Auslegung von Texten viel weiter zurückreiche. Bedarf an hermeneutischer Auslegung ergebe sich durch »eine zeitliche oder auch sachliche Distanz zwischen der Lebenswelt des Textes und derjenigen des Lesers« (13).
Leider wird weder dieser Hermeneutikbegriff reflektiert noch die Auswahl, Reihenfolge oder Benennung der fünf Bereiche »Dichtung, Bibel, Recht, Geschichte und Philosophie« begründet. Auch die »Gesamtkonzeption« (13) wird nicht erläutert. Vielmehr folgen fünf unverbunden nebeneinander stehende Kapitel, die jeweils in vier Unterkapitel »1. Antike, 2. Mittelalter, 3. Frühe Neuzeit (16.–18. Jahrhundert), 4. Neuzeit und Gegenwart (19.–21. Jahrhundert)« unterteilt die historische Entwicklung der jeweiligen Disziplin nachzeichnen, mehr oder weniger explizit als Geschichte der Hermeneutik und ihrer Methoden. Die chronologische Strukturierung nach Epochen bleibt wieder unbegründet, wird aber zumindest problematisiert: »Diese zeitliche Einteilung geht zwar über den in der Überschrift genannten Zeitraum hinaus, doch bildet das 16. Jahrhundert auch innerhalb der literarischen Renaissance einen Schwerpunkt, so dass das gemeinsame Einteilungsschema aller Beiträge dieses Bandes beibehalten werden kann.« (67, Anm. 150). Nur vereinzelt wird in den Beiträgen selbst jeweils mit einer Fußnote auf entsprechende Querverbindungen zu den anderen Disziplinen, auf gemeinsame Einflüsse oder Entwicklungen verwiesen. In der Zusammenschau der Artikel vermag sich der Leser in Eigenleistung Einblick in die wechselseitige Beeinflussung der verschiedenen Textwissenschaften verschaffen.
Als Kernaussagen lassen sich zusammenfassen: Bemüht sich die Philosophie um Verstehen von Welt und deren Repräsentanz im sprachlichen Ausdruck, so führt die Orientierung der europäischen Schriftkultur an autoritativen Texten im kirchlichen, juridischen oder wissenschaftlichen Bereich vor allem zur Entfaltung von Hermeneutiken der textförmigen Ausdrucksgestalten (vgl. 493). Im Bereich der Philosophie bildet sich im 17. Jh. erstmals eine explizite Hermeneutik als eigene Disziplin mit Universalitätsanspruch heraus. Erst vor diesem Hintergrund kann der Blick auf frühere Auslegungstraditionen gelenkt werden, die das eigene Selbstverständnis nicht ausdrücklich zum Thema machten.
So wurde die Dichtung in der abendländischen Kulturgeschichte zunächst mit den Regeln der Rhetorik betrachtet (vgl. 25). Die biblischen Texte, als Sonderfall von Literatur, werden anfangs mit philologischen Methoden der heidnischen Antike untersucht, während als eigentliche Frage in Bezug auf sie die Frage nach dem Verhältnis von Profanem und Göttlichem verhandelt wird (vgl. 143). Als literarische Texte im 18. Jh. Gegenstand der Hermeneutik werden, wird auf sie erst mit Methoden der Bibelhermeneutik zugegriffen, bevor sich im 20. Jh. eine spezifisch literarische Hermeneutik entwickelt. Für biblische Texte hingegen werden zunehmend philosophische Prinzipien bemüht.
War das Recht ursprünglich im Feld zwischen Religion, Sitte und Sittlichkeit angesiedelt (vgl. 277), so entwickelt sich in römischer Zeit eine säkulare Rechtskultur, deren Technik wiederum die der Rhetorik ist. Nach der (Re-)Integration des römischen Rechts in die Kultur des Mittelalters kommt ihm als ein quasi heiliger Text eine unhinterfragbare Autorität zu (vgl. 292). Diesen analog der biblischen Texte zu historisieren und kritisieren, ist erst eine Entwicklung der frühen Neuzeit. Von einer Hermeneutik im eigentlichen Sinn ist für die Rechtswissenschaften erst in den 1960ern zu sprechen.
Auch Geschichtsschreibung stand bis zur Renaissance unter dem Anspruch der Unmittelbarkeit der Darstellung und wurde vor dem Hintergrund des biblischen Konzeptes der Heilsgeschichte gelesen (vgl. 349). Wurde die Hermeneutik mit dem Historismus zu dem Kriterium von Geschichtswissenschaft überhaupt, rückt sie in der Postmoderne mit einem Verständnis von Geschichtsschreibung als »verbal fictions« in die Nähe der Literatur (vgl. 424).
Allen fünf »Pfaden« ist gemeinsam, dass hermeneutische Alleingeltungsansprüche in der Gegenwart zerbrochen sind. Stattdessen herrschen Methodenvielfalt und hermeneutische Pluralität vor. Angesichts dieses Tatbestandes erscheint als einziger expliziter Er­trag und Zusammenfassung des Großprojekts die Einschätzung: »Ungeachtet der gigantischen Expansion der Naturwissenschaften und der Technologie verharrt das Abendland offensichtlich erfolgreich in seiner hermeneutischen mentalen Lebensform.« (23) Das ist doch etwas mager.