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Ausgabe:

Juni/2014

Spalte:

752–754

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Kablitz, Andreas, u. Christoph Markschies[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Heilige Texte. Religion und Rationalität. Geisteswissenschaftliches Colloquium 1.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2013. VI, 297 S. Geb. EUR 39,95. ISBN 978-3-11-029658-7.

Rezensent:

Almut-Barbara Renger

Das Verhältnis von Religion und Literatur ist von zahlreichen Interrelationen bestimmt und unabhängig davon, ob sich Texte eher ästhetisch oder religiös verstehen. Es erlaubt viele verschiedene Fragen, etwa nach der Literarisierung von Religion einerseits und der Sakralisierung von Literatur andererseits.
Nach einer Fülle von Veröffentlichungen zu diesem Wechselverhältnis, die nicht nur, aber vor allem aus Theologie, Religions- und Literaturwissenschaft hervorgegangen sind, haben Andreas Kablitz und Christoph Markschies einen interdisziplinären Sammelband zu sogenannten heiligen Texten und damit zu einem Medium vorgelegt, dessen Untersuchung in den weit gesteckten Forschungsbereich der Interrelationen von Religion und Literatur fällt. Das Thema, das die Publikation insistierend umkreist, ist, wie ihr Titel anzeigt, die Relation Religion-Rationalität, wie sie sich auch und insbesondere an heiligen Texten verfolgen lässt. Damit haben die Herausgeber den Blick auf eine spezifische Ambivalenz gerichtet, die sich im Band durch verschiedene Texte und Medien unterschiedlicher Zeiten und Kulturen deutlich zeigt. Sie liegt darin, dass heilige Texte, denen Transzendenzqualitäten und/ oder Offenbarungscharakter zugeschrieben werden, Möglichkeiten sowohl des Entzugs als auch der Anwendung rationaler Verfahren im Umgang mit Religion eröffnen. Werden doch solche Texte einerseits regelmäßig auratisiert (auch auf materieller Ebene, nämlich ihre Träger), Eingeweihten vorbehalten und so in Dunkelheit gehalten, während andererseits bei ihrer Deutung und Kommentierung Verfahren mit Rationalitätsansprüchen zur Anwendung kommen, die verdeutlichen, dass solche – rationalen – Ansprüche und Ansätze heiligen Texten vielfach vorausliegen.
Mit dem Verweis auf diese Ambivalenz, wie sie in ungezählten Formen und Ausprägungen nicht nur in der europäischen Kultur- und Religionsgeschichte, sondern z. B. auch im indoasiatischen Raum zum Vorschein kommt, haben die Herausgeber 2009 in dem Genshagener Kolloquium, aus dem der Band hervorgegangen ist, ebenso spannende wie belangreiche Gespräche geführt. Es ist zu hoffen, dass diese Diskussion über den Kreis der Beiträger hinaus wirkt und fortgesetzt wird. In der Tat gilt Religion spätestens seit dem 18. Jh., wie Kablitz und Markschies im Vorwort darlegen, »vielen als der Inbegriff der Unvernunft, als Ausgeburt eines Aberglaubens, der einzig einer Priesterkaste zur Sicherung ihrer Macht dient und deren Kritik deshalb im Zentrum aller aufklärerischen Bemühungen um die auf Vernunft gegründete Wahrheit steht« (2). Dieser einseitigen Perspektive einer Gegenläufigkeit von Rationalität und Religion hält der Band in wissenschaftlich stichhaltiger Weise die umrissene Ambivalenz entgegen und liefert so – qua Demonstration, dass eine Einordnung von Religion auch in rationale Zu­sammenhänge möglich ist – einen wichtigen Beitrag zu Religionsdebatten über Fächer-, Kultur- und Konfessionsgrenzen hinaus.
Der Band hat viele Stärken, die es verdienen, hervorgehoben zu werden. Besonders verdienstvoll ist die zeitliche und räumliche Weite des Spektrums, das mit 13 Beiträgen prominenter Vertreter verschiedener Disziplinen aufgespannt wird. Der Bogen führt von Babylonien und Assyrien über das alte Indien und den antiken Mittelmeerraum bis ins europäische Mittelalter und die Moderne. Zu Wort kommen, neben der Romanistik und der Älteren Kirchengeschichte (durch die Herausgeber selbst), die Assyriologie (Stefan M. Maul), Indologie (Axel Michaels), Gräzistik (Oliver Primavesi), Alte Geschichte (Hans-Joachim Gehrke), Evangelische Theologie (Reinhard G. Kratz), Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft/Romanistik (Joachim Küpper), Philosophie (Otfried Höffe), Neuere Geschichte (Dieter Langewiesche), Ethnologie (Karl-Heinz Kohl) und Neuere Kunstgeschichte (Gottfried Boehm). Es geht um Testimonien aus dem Alten Orient und dem antiken Griechenland, um Schriften aus Judentum, Christentum und Islam, um Opfer- und Zaubersprüche, Narrative und Rituale außereuropäischer Re­ligionen, um philosophische Texte der europäischen Aufklärung, Schriften des Marxismus und, last but not least, Rezeptionen antiker Mythen in der Kunst des 19. und 20. Jh.s. Dabei werden erfreulicherweise viele grundlegende Fragen wie die nach Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Medialität und Performativität sowie eine Vielfalt von Genres und Darstellungsmodi erörtert.
Zu den weiteren Vorzügen der Aufsatzsammlung gehören der mit der Ambivalenzbetonung einhergehende diskursive Widerstand gegen Vereindeutigungen sowie das bemerkenswert hohe wissenschaftliche Niveau aller Beiträge. Vieles wird in vortrefflicher Form diskutiert und dem Leser aufbereitet, was in (seit Längerem) kontrovers geführten Debatten weitergehende Erörterung verdient – so etwa, um nur vier sehr verschiedene Beispiele (in der Reihenfolge des Abdrucks im Band) zu nennen: 1. Markschies’ Befunde zu Bibelorakeln und Zauberpapyri, die eine Bereicherung für die Debatte um das Verhältnis von Religion und Magie darstellen; 2. Küppers komplexe Überlegungen zum rationalen Erbe der Antike, die von hoher Bedeutung für die Diskussion der Säkularisierungsthese sind; 3. Kablitz’ Untersuchung des Zusammenhangs von poetischer Rede und Offenbarungsrede, in der er der vielerörterten Bedeutung von Ästhetik in religiösen Texten nachgeht; und 4. Kohls Reflexionen zur Produktion heiliger Texte durch die Ethnologie, die an (Selbst-)Kritiken des Faches anknüpfen.
Da es aufgrund der gebotenen Kürze hier leider nicht möglich ist, auf alle – durchweg exzellenten – Beiträge einzugehen, sei Folgendes zusammenfassend festgehalten: »Heilige« Texte spielen eine Rolle in weitreichenden sozialen und kulturellen Zusammenhängen – seien es in ihrer »Heiligkeit« unmittelbar identifizierbare Texte wie Ge-betbücher, Gesetzestexte oder Katechismen, seien es Schriften mit einem Status, der demjenigen heiliger Texte in Buchreligionen vergleichbar ist (wie z. B. diejenigen von Marx und Engels): Sie begründen Traditionen und ihnen zugehörige Praktiken (etwa Rituale), haben memorierende und normative Funktion, stiften Identität und stellen Legitimität her. Diesen vielfältigen Leistungen der Texte ist die Komplexität und Widersprüchlichkeit der Relation Religion-Rationalität gleichsam immanent: Texte mit Heiligkeitsstatus sind von Konflikten rationalen Ursprungs veranlasst, lösen sie aus, generieren Beziehungen der Rationalität zur Irrationalität, gehen aus solchen hervor, ziehen sich qua Verweis auf ihre transzendentale Dimension vor rationalen Zugriffen zurück und bestätigen zu­gleich im Wechselspiel mit solchen Zugriffen die Berechtigung ihres Geltungsanspruchs. Die Zusammenschau dessen, was heilige Texte, wie sie in den Beiträgen des Bandes untersucht werden, leisten, gibt zu erkennen, dass es wider jede Form der Rationalitätsentzogenheit der »Dialog mit der Rationalität« ist, welcher der Religion, so formuliert es der Klappentext, »ihr Fortbestehen in allen Zeiten erst ermöglicht«. Die Leistung des Buches besteht darin, ebendies durch Erhellung der Vielfalt der Wechselbeziehungen von Religion und Ratio nalität deutlich zu machen und dazu anzuregen, dieser Vielfalt anhand weiterer Fallbeispiele nachzugehen.
Kurz, die Aufsatzsammlung bietet wichtige Impulse, die zu Weiterführungen der Gespräche des »1. Geisteswissenschaftlichen Colloquiums« motivieren. Seine auf knapp 300 Seiten präsentierten Ergebnisse sind ein Gewinn für eine Fülle wissenschaftlicher Disziplinen. Die einzelnen Aufsätze überzeugen in ihren Argumentationen, und auch die formale Gestaltung des Bandes ist gelungen. Am Ende jeden Beitrags findet sich ein Literaturverzeichnis, am Buchende (worauf immer mehr Sammelbände ärgerlicherweise verzichten) ein Register mit Stellen, Autorennamen sowie Orten, und die Aufsätze selbst sind vorbildlich ediert.