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Ausgabe:

Juni/2014

Spalte:

742–745

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Schilling, Heinz

Titel/Untertitel:

Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs. Eine Biographie.

Verlag:

2., durchges. Aufl. München: C. H. Beck 2012 (3., durchges. Aufl. 2014). 714 S. m. 51 Abb. u. 4 Ktn. Geb. EUR 29,95. ISBN 978-3-406-63741-4.

Rezensent:

Eike Wolgast

Nach den Kirchenhistorikern Martin Brecht, Reinhard Schwarz und Volker Leppin, die zwischen 1981 und 2006 beeindruckende Lutherbiographien vorgelegt haben, hat sich mit Heinz Schilling jetzt ein hochrenommierter Allgemeinhistoriker der frühen Neuzeit dieser Aufgabe gestellt. Gut lesbar werden auf mehr als 700 Seiten Leben, Werk und Wirkung des Rebellen »in einer Zeit des Umbruchs« dargestellt und analysiert. Ergebnis ist ein »Luther ohne Goldgrund«, um die bekannte Formulierung von Gottfried Seebass zu zitieren – frei von den Übermalungen des positiv oder negativ konstruierten Mythos und der hagiographischen Memoria, stattdessen quellen-gesättigt zurückgeführt auf Fakten und Inhalte, die in den histo-rischen Kontext, in dem Luther dachte und agierte, eingestellt werden. Die Biographie bietet alles, was der Historiker, der die reichlich vorhandenen zeitgenössischen Materialien genau kennt und un­voreinge­nommen nutzt, seinem Publikum guten Gewissens vor-legen kann. Knappe, aber ausreichende Anmerkungen sowie ein um­fangreiches Literaturverzeichnis bezeugen Gelehrsamkeit und Kompetenz. Be­sonders hervorzuheben ist, dass alle Phasen der Le­bens- und Werkgeschichte des Reformators gleichgewichtig be­handelt werden, dem »alten Luther« des Alltags und der Kämpfe nach 1525 wird ebenso viel Platz eingeräumt wie dem »jungen Luther« der großen theologischen Entwürfe. Das Buch hat denn auch zu Recht seinen Weg gleichermaßen in die fachinterne wie in die interessierte Öffentlichkeit gefunden – ein Jahr nach der ersten ist 2013 die zweite Auflage er­schienen, in der einige Versehen und Irrtümer be­richtigt sind; mittlerweile hat es eine dritte Auflage erfahren.
Ein kurzer Prolog »Luther als Mensch einer Epoche des Um­bruchs« steckt die historiographischen Voraussetzungen ab, unter denen die Biographie konzipiert worden ist: die prinzipielle Differenzerfahrung des Lesers im 21. Jh. gegenüber Luther und seinen Zeitgenossen als Zeugen einer Welt, »die nicht mehr die unsere ist und uns somit mit dem Fremden und ganz Anderen konfrontiert« (15). Die Biographie ist in drei Teile gegliedert: Kindheit, Studium und erste Klosterjahre – 1483–1511 (21–112); Wittenberg und die An­fänge der Reformation – 1511–1525 (113–350); Zwischen Prophetengewissheit und zeitlichem Scheitern – 1525–1546 (351–611).
Im ersten Teil wird zunächst eine Bestandsaufnahme der Entwicklung um 1500 auf politischem, religiös-kirchlichem, wirtschaftlich-sozialem, demographischem und kulturellem Gebiet vorgenommen, jeweils im Horizont der Bedeutung für Luther und die Reformation. Kindheit, Jugend und Zuflucht im Kloster werden detailreich dargestellt; S. folgt für die Zeit bis 1519 der etwas in Mode gekommenen manieriert-gelehrten Marotte, seinen Helden nach dessen Ursprungsnamen als »Luder« zu bezeichnen. Herausgestellt wird, dass Luther sich im Kloster ganz der Leistungsfrömmigkeit der spätmittelalterlichen Kirche verschrieb und erst durch Staupitz auf den Erlösergott statt des Richtergottes und auf die intensive Bibellektüre verwiesen wurde. Die »weltgeschichtliche Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Gott und Mensch« (94) steht am Beginn der Reformation, Luthers neue Bibelfrömmigkeit, die sein Denken und Handeln seither bestimmte, war durch »die existentielle Radikalität, mit der er der Heiligen Schrift Gehör und Sitz im Leben verschaffte« (99), gekennzeichnet.
Teil II über die Jahre zwischen 1511 und 1525 beginnt mit einer anschaulichen Charakterisierung Wittenbergs, das, wie S. plastisch formuliert, zu »Luthers Kathedralstadt« (353) wurde. Die reformatorische Entdeckung (»Turmerlebnis«) wird als Prozess gezeichnet, dessen Abschluss erst spät erreicht war; noch im Mai 1516 reagierte Luther bei der Weihe des Eislebener Augustinerklosters »mit Angst und Schrecken auf die Gegenwart Gottes und seine – wie er annahm – unerbittliche Gerechtigkeit dem Sünder gegenüber« (150). Dem Ablassstreit misst S. als Beginn einer unumkehrbaren Bewegung »nach Art des zuerst fallenden Dominosteins« (167) hohe Bedeutung zu; er geht von einem Wittenberger Plakatdruck aus und hält den Anschlag am 31. Oktober für wahrscheinlich – der e silentio gewonnenen Argumentation gegen den Anschlag folgt er nicht. Das in der theologischen und öffentlichen Kontroverse gefundene Selbstbewusstsein führte Luther zwischen 1517 und 1519 zu der neuen Selbstbezeichnung »Eleutherius«, aus dem er dann das »th« in seinen bürgerlichen Namen übernahm. Die »Schritte zur Klärung« (180) werden im Einzelnen nachvollzogen, wobei allerdings die theologische Bedeutung der Heidelberger Disputation (theologia crucis vs. theologia gloriae) etwas zu kurz kommt. Luther trat in Heidelberg zudem nicht als »einfacher Mönch« (so 182), sondern als Distriktsvikar auf. Für die Wormser Konstellation von 1521 kon-tras­tiert S. Luthers Bekenntnisrede mit dem Bekenntnis, das Karl V. als Reaktion auf Luthers Auftreten abfasste und verlesen ließ. Die Wartburgzeit wird unter die gut gewählte Überschrift »Die Kärrnerarbeit beginnt« gestellt. Im Zusammenhang mit Luthers ersten Entwürfen für eine kirchliche Neuordnung entideologisiert S. das Dictum Luthers, er sei seinen Deutschen geboren – Luther meinte die Deutschen nicht in einem spezifisch nationalen Sinn, sondern als den »Teil des Gottesvolkes, dem er konkret das reine Wort Gottes zu verkünden hat« (268). Im Verlauf der 20er Jahre bildete sich sein Selbstbewusstsein als von Gott berufener Prophet, der die Gnadentheologie zu predigen hatte, in aller Eindeutigkeit heraus. An diesem Eigenverständnis hat Luther bekanntlich sein ganzes Leben hindurch festgehalten; als »dunkle Kehrseite« stellt S. »die Unfähigkeit, mit Andersdenkenden in einen Dialog einzutreten«, heraus, verbunden mit dem selbst auferlegten »Zwang, sie als Widersacher Gottes bedingungslos zu bekämpfen« (571). Das Kapitel über den »Kampf um die Deutungshoheit im eigenen Lager« untersucht die Auseinandersetzungen mit den »falschen Brüdern«, mit Münt zer und den aufständischen Bauern. Eheschließung, Familiengründung und Großhaushalt sind anschaulich in dem Kapitel »Angekommen in der Welt« nachgezeichnet.
Der umfangreiche dritte Teil des Buches gilt der Zeit nach 1525. Das »zeitliche Scheitern« des Reformators macht S. daran fest, dass die Wiederentdeckung des Evangeliums nicht, wie Luther gehofft hatte, zu einer Universalreform der Kirche führte, sondern nur zu partikularen Reformationen. Subtil und kenntnisreich werden die theologischen Probleme von Sakramentenlehre (gegen Zwingli und Täufer) und Willensfreiheit (gegen Erasmus) behandelt. Zum Verhältnis von Staat und Kirche stellt S. heraus, dass Luther die evangelische Landeskirche gewollt, der Obrigkeit aber kein Eingriffsrecht in den spirituellen Kern, die sacra, zugestanden habe. Dennoch: »Die Spannung zwischen seinem frühen Ideal gemeindekirchlicher Re­formation und den obrigkeitlichen Tendenzen der späteren Jahre war nicht zu übersehen und quälte den Reformator im Alter zunehmend« (432). »Vor den Herausforderungen der Welt« behandelt die Jahre der politischen Ratgebertätigkeit Luthers (»biblische Politiklehre«, 473) zwischen zweitem Speyerer Reichstag und der Doppel-ehe Philipps von Hessen mit den wichtigen Themen Bündnis, Wi­derstandsrecht und Zwei-Reiche-Lehre. Darauf folgt ein systematisch angelegtes Kapitel zu Luthers Äußerungen über Wirtschaft, Gesellschaft und Lebenswelten. »Irdische Freuden – Bilder, Dichtung und Musik« sind im Kapitel »Im Widerstreit der Emotionen – zwischen gottergebener Lebensfreude und apokalyptischen Ängsten« behandelt, ebenso wird die Analyse der Türken- und Judenschriften unter dem Stichwort »eschatologische Bedrohung« hier eingeordnet. Ohne dass der abstoßende und menschenverachtende Inhalt der späten Traktate gegen die Juden im mindesten relativiert wird, stellt S. diese Texte in den historisch-theologischen Kontext ihrer Entstehung und vermeidet die gern gepflegte undifferenzierte Pauschalentrüstung. Er verwahrt sich gegen die Vereinnahmung Luthers durch die Rassenideologie seit dem 19. Jh. und ihre Folgen; Luther sind nicht »in einem historischen Kausalzusammenhang Entscheidungen« zu­zurechnen, »die erst spätere Generationen trafen« (550 f.). Stattdessen gilt: »Auch in der Endzeitperspektive des alten Luther bleibt das Heil universell und allen Menschen zugänglich, gerade auch den Juden.« (569) Luthers Sterben wird als »Teil der Reforma-tion« gedeutet (589) – im Sterbegebet ist »redemisti« irrtümlich als »errette mich« übersetzt statt: »du hast mich erlöst«. Der Tod Luthers und der Karls V. werden in einer nochmaligen Parallelisierung wichtiger Stationen ihres Lebenswegs verglichen: Auch der Kaiser stirbt »in einem Chris­tus-Glauben, der der Solus-Christus-Lehre seines Wittenberger Wi­dersachers sehr ähnlich sah« (611).
Ein kurzer Epilog »Luther und die Neuzeit – Dialektik von Scheitern und Erfolg« (612–636) historisiert unter der Fragestellung der Modernisierung Luther nochmals gegen alle Versuche, ihn zum bewussten Ahnherrn von politischer Freiheit, Toleranz und Pluralismus zu machen. Nur »wider Willen« – aber immerhin doch wenigstens auf diese Weise! – wurde Luther »zum Geburtshelfer der pluralistischen und liberalen Moderne«. Allerdings liegt »sein ureigenes Legat an die Neuzeit […] woanders – in der Wiederentdeckung von Religion und Glauben als für den Einzelnen wie für die Gesellschaft autochthone Kräfte« (634). Das macht es allerdings schwierig, in einer Zeit, die auf dem Weg der Säkularisierung weit fortgeschritten ist, Luthers und der Reformation anders als eines nur noch historischen Ereignisses zu gedenken. S.s monumentales Werk bietet jedoch eine gute Anleitung, sachgemäß und zukunftsbezogen mit dieser Herausforderung umzugehen.