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Ausgabe:

Juni/2014

Spalte:

740–742

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Galle, Christoph

Titel/Untertitel:

Hodie nullus – cras maximus. Berühmtwerden und Berühmtsein im frühen 16. Jahrhundert am Beispiel des Erasmus von Rotterdam.

Verlag:

Münster: Aschendorff 2013. 481 S. = Reformationsgeschichtliche Studien und Texte, 158. Geb. EUR 62,00. ISBN 978-3-402-11582-4.

Rezensent:

Stefan Michel

Wie wird man ein Medienstar und damit berühmt? Heute geht das durch Shows vermeintlich relativ einfach. Wie der Weg des Be­rühmtwerdens am Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit verlief, so dass ein Mensch »heute niemand« und »morgen je­mand« war, zeigt am Beispiel des Erasmus von Rotterdam detailreich und gründlich Christoph Galle in seiner Marburger historischen Dissertation, die von Wilhelm Ernst Winterhager betreut wurde. G. fragt aber noch weiter: Ihm genügt es nicht, den Vorgang des Be­rühmtwerdens nachzuzeichnen, sondern er weist auch darauf hin, dass man sich anstrengen muss, um berühmt zu bleiben.
G. stellt in seiner Einleitung (13–37) allgemeine Überlegungen zur Fragestellung, dem Forschungsstand, der Methodik sowie den Quellen in den Mittelpunkt. G. setzt sich das Ziel in den lateinkundigen und deutschsprachigen Teilöffentlichkeiten nach Erasmus’ Berühmtwerden zu fragen. Deshalb sollen die Erasmuskorrespondenz, aus der z. B. Patronagen hervorgehen, sowie seine Schriften als Quellengrundlage herangezogen werden. Er untersucht genau, wann welche Schriften ins Deutsche übersetzt wurden und so auch nicht bzw. weniger gelehrten Kreisen zugänglich waren.
Das erste große Kapitel geht den »Bedingungen für eine litera-rische Karriere im 16. Jahrhundert« nach (38–155). Kenntnisreich berichtet G. zunächst (A.) über Kennzeichen eines Gelehrten und die des »gemeinen Mannes«, die Bedeutung des Briefes in humanistischen Kreisen oder die Alphabetisierungsrate, um so die Bildungssituation um 1500 zu verdeutlichen. In einem zweiten Schritt (B.) stellt er Medien vor, unter denen der Buchdruck an erster Stelle steht. Deren Verbreitung vergleicht er, ausgehend von Studien Bernd Moellers, vor allem mit der von Martin Luthers Schriften (62). Dabei kommen Buchformate und -preise ebenso zur Sprache. Sodann werden Kommunikationsformen näher vorgestellt (C.), unter denen der Brief als schriftliche Form, aber auch die mündlichen Kommunikationsweisen des Vorlesens, der Predigt und des Geredes in Tavernen und auf Marktplätzen erwähnt werden. Da für das Berühmtwerden des Erasmus die Wahl der Sprache ganz entscheidend ist, widmet G. diesem Thema einen eigenen Abschnitt (D.). Demnach waren um 1500 nicht nur deutsche Schriften gefragt, sondern es bestand auch ein dezidiertes Interesse an lateinischen Werken. Schließlich weist G. auf Beziehungsnetzwerke hin (E.), zu denen Mäzene und Gönner, Humanisten und Kritiker zählen können.
Nach diesen bereits anregenden Gedanken zeichnet G. nun in Etappen das Berühmtwerden des Erasmus nach (156–365). Zu­nächst fragt er nach den Grundlagen (A.), die im Falle des Erasmus aufgrund seiner unehelichen Geburt eigentlich schlecht waren. Allerdings ergaben sich durch sein Studium oder seine Reisen zahlreiche Kontakte mit Förderern. Danach untersucht G. systematisch den »Aufstieg des Erasmus von Rotterdam« (B.): Er macht deutlich, dass er in der lateinsprachigen Teilöffentlichkeit bald eine gewisse Bekanntheit erlangte. Als Belege dienen G. statistische Angaben aus der Auswertung der Korrespondenzen. Er achtete dabei nicht nur auf die Anzahl der Briefe, sondern auch auf die geographische Verbreitung der Korrespondenzpartner. Für die Bekanntheit in der volkssprachlichen Teilöffentlichkeit wertet G. eine selbst erstellte Statistik zu Übersetzung lateinischer Schriften des Erasmus aus. Augsburg, Leipzig, Zürich, Straßburg und Basel waren demnach die häufigsten Druckorte lateinischer Schriften (211 f.). Ähnlich sieht das Bild auch für die deutschen Übersetzungen aus (217). G. untersucht weiterhin die Druckformate und die Anzahl der Dru­cke bis 1600 (219–223) sowie Auflagenstärken. Die gewonnenen Er­kenntnisse werden nun biographisch überprüft (C.). Dabei ergibt sich, dass ab 1512 mit dem »Lob der Torheit« (erschienen 1511) die Berühmtheit des Erasmus zunimmt, so dass seine Reise rheinaufwärts nach Basel im Jahr 1514 zu einem »Triumphzug« werden konnte. Er war demnach auch »in Regionen« bekannt (278), »die er noch nie besucht hatte und in denen er keinen bleibenden Eindruck hatte hinterlassen können.« So lässt sich fast von einer »Erasmuseuphorie« in dieser Zeit sprechen (322). Zwischen 1518 und 1521 erreichte Erasmus den Höhepunkt seiner Berühmtheit (304), der für seine Schriften – besonders auch die Ausgabe des Neuen Testaments – in ganz Europa gefeiert wurde, wie G. aus zahlreichen Korrespondenzen belegen kann. Spätestens ab 1519 drängte sich aber bei der deutschen Öffentlichkeit das Thema Luther in den Mittelpunkt des Interesses (312). Erasmus war nun bestrebt, sich stärker von diesem zu distanzieren, da sonst eine Vereinnahmung seiner Anliegen für die der Reformation drohte (319–321). Fortan galt Erasmus bei manchen nach wie vor als bedeutendster Gelehrter, bei anderen aber hatte er seinen Ruf verloren, da er die Reformation nicht unterstützte. Während Erasmus in den 1520er Jahren in seinen Veröffentlichungen weiterhin an der lateinischen Sprache festhielt, erschienen zahlreiche deutsche Übersetzungen seiner Schriften, mit denen Verleger oder Übersetzer verschiedenste Interessen verfolgten, die von finanziellem Gewinn bis zu Instrumentalisierung für die Sache der Reformation reichen konnten (333). Die Zahl der Bewunderer in Polen, Spanien oder Italien blieb allerdings hoch. Obwohl die Sorbonne gegen Erasmus eingestellt war, verfügte er auch in Frankreich weiterhin über großes Ansehen. Gleichwohl legte sich die Euphorie deutlich.
Ab 1519/20 geht G. von einem Berühmtsein des Erasmus aus, das er an Beispielen in zwei Richtungen hin ausführt (366–382): Erasmus nutzte seine Bekanntheit aus, um Meinungen zu beeinflussen und sich für Gleichgesinnte wie Louis de Berquin einzusetzen. An­dererseits versuchten andere, die Berühmtheit des Erasmus auszunutzen, wie G. an Zwingli deutlich macht.
Zum Schluss fasst G. seine Erkenntnisse nochmals gebündelt zusammen (383–392). Dabei stellt er fest, dass das Beispiel des Erasmus eine große Ausnahme darstellt. Der Grad der Berühmtheit wurde nur noch durch Luther übertroffen. Allein die Bildung gepaart mit Protektion ermöglichte Erasmus diesen Aufstieg, so dass ihn auch lateinunkundige Menschen kannten. Kommunikationsmedien förderten das Berühmtwerden. Ohne humanistische Netzwerke hätte Erasmus jedoch diesen Grad an Berühmtheit nie erlangt.
Ein Anhang stellt alle in der Korrespondenz des Erasmus er­wähnten Werke zusammen (393–425).
Die Lektüre des sehr gut lektorierten Bandes ist methodisch anregend und bereitet großes Vergnügen. G. verliert nie den Fokus seiner Untersuchung aus den Augen. Neueste Literatur wird selbstverständlich herangezogen. Vergleiche und Zitate werden häufig in den Anmerkungen geboten. Ein Personen- und ein Ortsregister (467–481) bestätigen den insgesamt hoch erfreulichen Eindruck, den das Buch hinterlässt. Eine ähnliche Studie wäre z. B. für Melanchthon oder Luther wünschenswert.