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Ausgabe:

Juni/2014

Spalte:

737–739

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Grenzmann, Ludger, Haye, Thomas, Henkel, Nikolaus, u. Thomas Kaufmann [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Wechselseitige Wahrnehmung der Religionen im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit.

Verlag:

Teil I: Konzeptionelle Grundfragen und Fallstudien (Heiden, Barbaren, Juden). Berlin u. a.: De Gruyter 2009. X, 281 S. m. Abb. = Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Neue Folge, 4/1. Lw. EUR 89,95. ISBN 978-3-11-021352-2. Teil II: Kulturelle Konkretionen (Literatur, Mythographie, Wissenschaft und Kunst). Berlin u. a.: De Gruyter 2012. VI, 319 S. m. Abb. = Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Neue Folge, 4/2. Lw. EUR 89,95. ISBN 978-3-11-028519-2.

Rezensent:

Hans-Martin Kirn

Die beiden Bände dokumentieren mit 20 Beiträgen aus unterschiedlichen Fachrichtungen vier Tagungen der Kommission für die Erforschung der Kultur des Spätmittelalters (Akademie der Wissenschaften zu Göttingen) zwischen 2004 und 2007. Den Eingang bilden grundlegende geschichtswissenschaftliche Orientierungen von F. Rexroth zur Erforschung kollektiver Wahrnehmungsweisen und Deutungsmuster. Dabei wird zu Recht im Ge­folge der französischen Mentalitätsgeschichtsschreibung darauf hingewiesen, dass diese einer umfassenden sozialhistorischen Verantwortung bedürfen, um aussagekräftig zu sein, was freilich nicht immer leicht zu leisten ist.
B. Kellner geht in ihrem Beitrag der »Wahrnehmung und Deutung des Heidnischen in Wolfram Eschenbachs ›Parzival‹« nach. Es zeigt sich eine bemerkenswerte Ambivalenz zwischen Abwehr und Aneignung des Paganen, was dem Christlichen einen gleichsam hybriden Charakter gab. – W. Reinhard legt einen instruktiven Überblick über die von biblischen wie eroberungspolitischen Motiven bestimmte christliche Wahrnehmung und Negativ-Bewertung fremder Religionen in der frühen Neuzeit mit ihren Ambivalenzen und graduellen Abstufungen vor. – Aus kunsthistorischer Sicht analysiert Chr. Freigang anhand von Gebetbuchillustrationen A. Dürers den Umgang mit Papageien und Paradiesvögeln, die im mittelalterlichen Sinne als Idealschönheiten göttlicher Schöpfung erschienen, aber in ihrer Fremdheit auch dem kunsttheoretischen Diskurs zur Autonomie der Malerei dienstbar gemacht wurden. – H.-J. Becker beschreibt auf übersichtliche Weise die Stellung des kanonischen Rechts zu Heiden, Juden und Häretikern seit der »konstantinischen Wende«. – M. Sievernich befasst sich mit den gegensätzlichen Positionen zweier Spanier, des Humanisten Juan Ginés de Sepúlveda und des dominikanischen (Spät-) Scho­lastikers Francisco de Vitoria, zum Umgang mit Alterität im Blick auf conquista und Indianermission. – B. Scheller analysiert die Massenkonversion von Juden im Königreich Neapel 1292 als Folge inquisitorischer Judenverfolgung im breiteren Kontext von Herrschaftszentrierung und Diskriminierungspraxis. – Der Etablierung der christlichen Hebraistik als wissenschaftlicher Disziplin geht S. G. Burnett in seinem Beitrag zu den »Jüdische[n] Vermittler[n] des Hebräischen und ihre[r] christlichen Schüler im Spätmittelalter« nach. Auf umsichtige Weise zeichnet er das Profil dieser zahlenmäßig kleinen, aber enorme Wirkung zeitigenden Gruppe von Vermittlern, geht auf ihre sozialen Kontexte ein und beschreibt ihre Dienstleistungen vom Hebräischunterricht über das Kopieren von Handschriften und das Übersetzen jüdischer Texte (zum Thema vgl. jetzt auch Burnett, Christian Hebraism in the Reformation Era, 2012). – Th. Noll geht in einem interessanten Beitrag auf die Bedeutung der von A. Altdorfer unmittelbar vor deren Zerstörung 1519 geschaffenen Radierungen von Vorhalle und Innenraum der Synagoge von Regensburg ein. Es spricht einiges für seine Vermutung, dass Altdorfer die beiden Radierungen als dokumentarische Erinnerungsblätter für Glieder der vertriebenen jüdischen Gemeinde schuf und wohl auch mit humanistisch gebildeten Abnehmern auf christlicher Seite rechnete. – Chr. Daxelmüller würdigt den jüdischen Gelehrten Elias Levita, Hebräischlehrer von Aegidio von Viterbo, als produktiven Grenzgänger zwischen den Kulturen und Religionen. – N. Schnitzler liefert einen Beitrag zur Geschichte jüdisch-christlicher Paarbeziehungen im Spätmittelalter. Trotz obrigkeitlicher Verbote jeglicher »Vermischung« waren offenbar bis um die Mitte des 15. Jh.s längerfristige Lebensgemeinschaften zwischen Juden und Christen nicht gänzlich unmöglich. Selbstregulierend wirkten auf jüdischer wie christlicher Seite vor allem die familienbezogenen Normen und Werte.
Die »humanistische Erforschung und Anerkennung nicht-christlicher Kultur und Religion« und ihr Toleranzpotential analysiert in einem einführenden Beitrag zum zweiten Teilband W. Ludwig. Dabei wird neben begriffsgeschichtlichen Erkundungen auf die Positionen von D. Erasmus, Th. Morus und J. Lipsius eingegangen und darüber hinaus, bislang weniger beachtet, die spätere Debatte bei J. Le Clerc, R. Jenkin und L. A. Muratori zum augustinischen Toleranzbegriff verfolgt.
D. Gall geht der unterschiedlichen »Rezeption der paganen Götter bei Boccaccio und Ficino« nach. Boccaccio steht für den enzyklopädisch interessierten Mythographen, der den Mythos als Poesie verteidigte, Ficino für den neuplatonisch inspirierten christlichen Philosophen, der den Mythos in sein System einer »prisca theologia« integrierte. – B. Guthmüllers Beitrag gilt der »religiösen Polemik gegen das Studium der antiken Dichter in Italien um 1400«, als Schlüsseltext dient G. Dominicis Schrift »Lucula noctis«. – Der Spannung zwischen Polemik und Aneignung widmet sich Chr. Schmitz im Blick auf M. Vegios hagiographisches Epos »Antonias« (1436/1437), das den Austausch paganer mythologischer Stoffe durch christliche Inhalte spätantiker Autoren und die Übernahme von deren Kritik am paganen Mythos illustriert. – M. Kern analysiert S. Schaidenreissers Übersetzung der homerischen Odyssee von 1537, verbunden mit kurzen Hinweisen auf J. Wickrams Übersetzung von Ovids Metamorphosen von 1545. Schaidenreisser unterschied auffallend klar zwischen narrativem Haupttext und interpretierenden Paratexten. Zu Recht wird auf die schon im Mittelalter geläufigen Verfahren der Glossierung hingewiesen, wobei sich breitere Vergleiche, etwa mit der Glossierung der Bibel und der Rechtsquellen, anbieten. – G. Huber-Rebenich geht der Ovid-Illustrierung im Renaissance-Humanismus und den dortigen Wahrnehmungsmustern der antiken Götterwelt nach. Die Entwicklung tendiert von der »Totalassimilation« antiker Sageninhalte an die Welt der Gegenwart hin zur Objektivierung, die den Leser mit der Fremdheit der antiken Welt konfrontierte.
Dem Thema Islam sind die letzten drei Beiträge gewidmet: L. E. Saurma-Jeltsch beschreibt aus kunsthistorischer Sicht die grundsätzlich ambivalenten Blicke auf die Muslime im Spätmittelalter und den topischen Charakter der Bildmotive. Wichtig sind die Beobachtungen zur »synthetischen Gestalt«: Je nach Interessenlage konnte der Muslim die Züge des Heiden oder des Juden annehmen. – Th. Kaufmann erörtert kundig die »Aspekte christlicher Wahrnehmung der ›türkischen Religion‹ im 15. und 16. Jh. im Spiegel publizistischer Quellen«. Dabei kommen die klassischen häresiologischen Wahrnehmungsmuster, die Auseinandersetzung mit dem Koran und seiner Lehre sowie die zunehmend bedeutsame Meinungsbildung aufgrund von Reise- und Gefangenschaftsberichten zur Sprache. Dem Aufkommen der reformatorischen Be­wegung folgte bald die Konfessionalisierung des Türkenparadigmas im Dienst gegenseitiger Diffamierung (vgl. Th. Kaufmann, Türkenbüchlein, 2008). – A. Höfert analysiert in guter Ergänzung zum vorausgehenden Beitrag das »Spannungsfeld von häresiologischer und ethnographischer Tradition«. Dabei zeigt sich das Eigengewicht, welches empirischer Welterkundung und ethnographischer Wissensgestaltung gegenüber dem häresiologischen Diskurs zuzuschreiben ist. Man wird wohl in der Tat so weit gehen können zu sagen, dass sich hier ein allgemeiner Religionsbegriff ankündigt.
Insgesamt stellt sich das Gegenstandsfeld der Bände nicht nur als komplex, sondern auch als ausgesprochen disparat dar (vgl. Teil 1, X). Leider konnten keine islamwissenschaftlichen Beiträge aufgenommen werden. Die Stärke der Bände ist die der Einzelbeiträge, die gut an den jeweiligen Forschungsstand anschließen und oft ungewohnte Perspektiven eröffnen. Einige interessante Querverbindungen – etwa zum Streit um die Augustinrezeption in unterschiedlichen Diskursen – lassen sich mit Hilfe der Register erschließen. Es bleibt zu hoffen, dass die lesenswerten Bände dem fächerübergreifenden Gespräch zu einem aktuellen und brisanten Thema weitere Impulse geben werden.