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Ausgabe:

Juni/2014

Spalte:

708–710

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Ziebertz, Hans-Georg, u. Tobias Benzing

Titel/Untertitel:

Menschenrechte: Trotz oder wegen Religion?Eine empirische Studie unter jungen Christen, Muslimen und Nicht-Religiösen.

Verlag:

Münster u. a.: LIT Verlag 2012. 320 S. = Empirische Theologie, 25. Kart. EUR 24,90. ISBN 978-3-643-11933-9.

Rezensent:

Carsten Gennerich

Das Buch von Hans-Georg Ziebertz und Tobias Benzing berichtet über die Ergebnisse einer Schülerbefragung (N = 1785) in den Jahrgangsstufen 10 und 11 aus den Jahren 2007–2008. Für eine profilierende Analyse haben die Autoren 966 mehrheitlich zwischen 16 und 17 Jahre alte Jugendliche ausgewählt, die sich entschieden als Christen (N = 343), Muslime (N = 352) oder Nicht-Religiöse (N = 271) kategorisierten. Ein aussagekräftiger Vergleich der drei Gruppen ist auf dieser Grundlage möglich. Inhaltlich werden sowohl menschenrechtsbezogene als auch religiöse Einstellungen in einer substantiellen Breite erfasst. So werden Einstellungen zu Bürgerrechten (z. B. Freiheit des Lebensstils), Lebensrechten (z. B. Schutz vor Folter), sozio-ökonomischen Rechten (z. B. auf Beschäftigung), po-litische Rechte (z. B. Flüchtlingsrecht) und Umweltrechten ab­-gefragt. Die Erfassung der Religiosität orientiert sich an den fünf Glockschen Dimensionen: 1. Ideologisch (Bibel/Koran als Wort Got-tes), 2. intellektuell (Interesse an Religion), 3. rituell (Bibel- und Koranlektüre, Gebet, Besuch religiöser Veranstaltungen), 4. Erfahrungen (spirituelle Erfahrungen, Gotteserfahrungen) und 5. Konsequenzen (zugeschriebene Relevanz für die Lebenspraxis). Ein dritter Block erhebt sodann die Wertvorstellungen der Jugendlichen. Darüber hinaus wurden verschiedene Hintergrundvariablen er­fasst wie Persönlichkeitseigenschaften und Merkmale der Familie.
Im Methodenkapitel stellen die Autoren alle Variablen im Wortlaut und die zugehörigen konzeptionellen Überlegungen vor. Eine sorgfältige Darstellung der Stichprobe anhand soziodemographischer und persönlichkeitsbezogener Merkmale ermöglicht eine transparente Einordnung der drei Teilstichproben im Verhältnis zur Gesamtstichprobe. Zur Sorgfalt der Studie gehört des Weiteren stets eine historische bzw. fachwissenschaftliche Ableitung und Darstellung der gemessenen Konzepte. Ebenso werden jeweils die statistische Zuverlässigkeit der Messungen, die Mittweltwerte bzw. Häufigkeiten und die korrelativen Zusammenhänge der Konzepte untereinander dargelegt.
Insgesamt zeigen die Jugendlichen positive Einstellungen ge­genüber den Menschenrechten. Lediglich in Fragen der Religionsfreiheit indizieren sie, dass die Politik nicht völlig religionsfrei sein soll (62 % der Christen, 25 % der muslimischen und 15 % der Nicht-Religiösen lehnen eine Trennung von Staat und Religion ab) und dass es kein Recht geben solle, sich über religiöse Menschen lustig zu machen (62 % der Christen, 65 % der Muslime und 49 % der Nicht-Religiösen lehnen ein solches Recht freier religiöser Rede ab). Bezogen auf die Frage nach einem Zusammenhang von Religiosität und Menschenrechtseinstellungen konnte über die Teilgruppen hinweg gezeigt werden, dass religiöse gegenüber nicht-religiösen Jugendlichen stärker Flüchtlingsrechte und das Folterverbot bejahen. Daneben zeigt sich, dass religiöse Jugendliche gegenüber den Nicht-Religiösen ein absolutes Verfügungsrecht über das Leben (Abtreibung, Euthanasie) eher ablehnen. Speziell die Muslime bejahen schließlich stärker als die anderen Gruppen sozio-ökonomische Rechte wie einen Anspruch auf Arbeit, was mutmaßlich der weniger günstigen sozio-ökonomischen Stellung ihrer Familien entspricht (94–95). Die detaillierte Erfassung verschiedener Dimensionen der Religiosität ermöglicht, die Ergebnisse zu spezifizieren.
So zeigen sich etwa die Zusammenhänge zum Verfügungsrecht über das Leben besonders deutlich bei jenen Jugendlichen, die ihrer Religiosität eine starke Bedeutung für ihre Lebensführung zu­schreiben. Weiter ins Detail gehend untersucht die Studie eine Vielzahl von Zusammenhängen zwischen unterschiedlichen religiösen Profilmerkmalen und der Zustimmung zu den un­terschiedlichen Menschenrechten. Eine der vielen interessanten Zu­sammenhänge betrifft zum Beispiel die Dimension des Gottesbildes. Muslime vertreten stärker als christliche Jugendliche ein personales Gottesbild, mit dem eine stärkere Bejahung der Würde des Menschen einhergeht (Schutz vor Folter, Ab­lehnung von Ab­treibung und Euthanasie).
Die Befunde zur Religiosität helfen, das spezifische Profil muslimischer Jugendlicher im Vergleich zu christlichen Jugendlichen schärfer zu fassen. 81 % der christlichen und 98 % der muslimischen Jugendlichen betrachten die Bibel bzw. den Koran als Wort Gottes. Auf einem hohen Niveau der Zustimmung zeigt sich hier ein Unterschied zwischen christlichen und muslimischen Jugend-lichen, der sich weitgehend über das ganze Feld der Religiosität zieht. Muslimische Jugendliche haben ein deutlich ausgeprägtes Interesse an religiösen Fragen (37 % vs. 85 %). Die höhere Bedeutung der Religiosität für muslimische Jugendliche zeigt sich auch im ihrer religiösen Praxis. Sie lesen mehr im Koran (66 % mindestens ab und zu) als christliche Jugendliche in der Bibel (21 %) lesen (257) und gehen auch häufiger in Gottesdienste/religiöse Veranstaltungen (42 % vs. 23 %). 54 % der christlichen und 73 % der muslimischen Jugendlichen beten zumindest ab und zu im Alltag. 45 % der christlichen und 84 % der muslimischen Jugendlichen sprechen von mittleren bis sehr starken Gotteserfahrungen. Lediglich der Begriff der »spirituellen Erfahrung« zeigt vergleichbare Zustimmungswerte (70 % vs. 73 %). Von mittleren bis sehr starken Konsequenzen der eigenen Religiosität für die Lebensführung sprechen 72 % der christlichen und 94 % der muslimischen Jugendlichen (257–259).
Interessant sind die damit im Zusammenhang stehenden Vorstellungen zur Religionstheologie. 75 % der Muslime vertreten ein exklusivistisches Religionsverständnis gegenüber 24 % der Christen und 5 % der Nicht-Religiösen. Beim Inklusivismus zeigt sich ein ähnliches Muster (62 %/22 %/7 %). Eine dialogische Position vertreten 40 % der christlichen, 63 % der muslimischen und 13 % der Nicht-Religiösen. Pluralistische Positionen werden von 47 % der christlichen, 48 % der muslimischen und 26 % der Nicht-Religiösen vertreten.
Um den Rahmen nicht zu sprengen, wird die Fülle dieser Befunde nur ansatzweise in einen weiteren Diskussionskontext gestellt. Das ermöglicht dem Leser, eigenständige interpretative Überlegungen anzustellen. So ist z. B. der Befund stimulierend, dass die Muslime weitgehend alle religionstheologischen Po­sition befürworten, lediglich der Pluralismus schneidet nicht ganz so stark ab, aber immerhin noch stärker als bei den christlichen Jugendlichen. Die muslimischen Jugendlichen scheinen da­her einen harten Pluralismus (Nipkow) zu vertreten, insofern sie offenbar mit dem Exklusivismus und Inklusivismus ihre religiöse Verwurzeltheit ausdrücken, jedoch zugleich offen für einen Dialog sind. Der religiöse Relativismus der christlichen Jugendlichen zeigt sich demgegenüber nicht als Toleranzgewinn, insofern sie pluralistische und dialogische Positionen nicht stärker befürworten als die Muslime. Die Konstruktion von Religion als relevant fördert offenbar das Interesse an Dialog und befähigt offenbar auch zur Wertschätzung des religiös Anderen.
Für derartige, weiterführende interpretatorische Überlegungen finden sich im Anhang sämtliche Tabellen mit den Häufigkeitsverteilungen zwischen den Gruppen und bezogen auf alle gemessenen Einstellungsskalen. Diese bieten eine wertvolle Fundgrube für eine weiterführende Diskussion der Ergebnisse. Gerade dieser Sachverhalt verspricht eine interessante Lektüre.