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Ausgabe:

Juni/2014

Spalte:

706–708

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Lüddeckens, Dorothea, Uehlinger, Christoph, u. Rafael Walthert[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Die Sichtbarkeit religiöser Identität. Repräsentation – Differenz – Konflikt.

Verlag:

Zürich: Pano Verlag (Theolo-gischer Verlag Zürich) 2013. 430 S. m. Abb. = CULTuREL Religionswissenschaftliche Studien, 4. Kart. EUR 41,50. ISBN 978-3-290- 22022-8.

Rezensent:

Kathrin Kohle

Sei es die Diskussion über ein Kopftuchverbot für Lehrerinnen oder den Bau von Minaretten: Die sichtbare Integration »des Islam« in das westliche Europa ist längst mehr als eine Medienkontroverse. Auch die religionswissenschaftliche Forschung hat sich des Themas angenommen. In der Schweiz wurde im Rahmen eines Forschungsprojektes die Rolle der Sichtbarkeit von Religion im Spannungsfeld von Integration und Anpassung untersucht. Die Teil-ergebnisse dieses Projekts wurden 2010 in Zürich im Rahmen der Tagung »Die Sichtbarkeit religiöser Identität. Repräsentation – Differenz – Konflikt« diskutiert. Die Vorträge liegen nun in überarbeiteter Form im gleichnamigen Sammelband vor.
Ausgehend von der Annahme, dass religiöse Diversität in Gesellschaften vor allem durch Kleidung und Bauten sichtbar wird, ist der Hauptteil des Bandes zweigegliedert. Diesem Hauptteil ist ein Aufsatz von Astrid Reuter vorangestellt, in dem es um die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen geht, die den visuellen Ausdruck von Religion in der Öffentlichkeit regeln. Der Beitrag mutet zunächst als Plädoyer für die Religionsfreiheit an, skizziert jedoch letztlich reflektiert das Dilemma, dem der säkularisierte Staat rechtsphilosophisch gegenübersteht: seinen Bürgern positive und negative Religionsfreiheit gleichermaßen zu garantieren. Indem der Staat definiere, was unter Religion zu verstehen ist und was rechtlich geschützt werden muss, stecke er ein Feld ab, in dem religiöse Akteure agieren müssen, um als solche anerkannt zu werden. Durch diese Setzung werden religiöse Identitäten und Wahrnehmungen beeinflusst und Konfliktpotentiale in der Gesellschaft erzeugt.
Der erste Hauptteil »Kleidung« wird durch den Beitrag von Dorothea Lüddeckens eingeleitet. Sie erarbeitet einen theoretischen Zugang zur Bedeutung von Kleidung in Interaktionen. Dabei zeigt sie auf, wie Kleidung durch die Zuschreibung ihres Trägers zu »religiöser« Kleidung wird, diese innerhalb der sozialen Interaktion ihre spezifische Bedeutung erhält und diese gleichzeitig beeinflusst. Auch Roland Eckert und Stefanie Würtz leisten einen theoretischen Beitrag, der Lüddeckens Überlegungen um den Begriff der »Polysemie« ergänzt.
Jacqueline Grigo und Grit Klinkhammer haben jeweils die Prozesse der Identitätsbildung im Zusammenhang mit religiöser Kleidung untersucht. Grigo ist es gelungen, eine spannende Auswahl an Interviewpartnern unterschied-licher Religionen zu gewinnen und deren Selbst- und Fremdwahrnehmung zu veranschaulichen. Gleichzeitig arbeitet sie heraus, welche Auswirkungen religiöse Kleidung auf Zugehörigkeit und Abgrenzung innerhalb der schweizerischen Gesellschaft haben kann. – Klinkhammer analysiert, wie einzelne Labels und Internetshops sich auf Individualisierungsprozesse innerhalb muslimischer Traditionen in Deutschland auswirken. Ihre Angebotsanalyse des »Marktsegments Islam« zeigt ein modernes islamisches Milieu, das an westliche Trends anknüpfen und gleichzeitig an Traditionen festhalten will und damit zu einer hybriden Form wird.
Der zweite Hauptteil »Bauten« wird durch den Beitrag von Chris­toph Uehlinger eingeleitet, der anhand eines historischen Beispiels die Folgen visueller Repräsentation von Minderheiten auf deren gesellschaftliche Anerkennung diskutiert. Neben wichtigen theoretischen Überlegungen gelingt es ihm auch aufzuzeigen, dass die Diskussion keineswegs eine Erscheinung des 21. Jh.s ist. Religiöse Minderheiten, wie im Fallbeispiel Katholiken, mussten bereits im 18. und 19. Jh. in der protestantisch geprägten Schweiz um Anerkennung kämpfen. Neben Katholiken mussten sich auch Juden mit der Frage auseinandersetzen, auf welche Weise man durch Bauwerke in der Gesellschaft sichtbar werden konnte. Hier setzt Ron Epstein in seinem Beitrag an. Er beschreibt detailliert die Veränderung jüdischer Architektur vom 19. Jh. bis zur Gegenwart.
Jörg Hüttermann führt eine funktionssoziologische Analyse zur historischen Kontextualisierung des Minarett-Streites durch. Er zeigt auf, wie sich der ständig wandelnde soziale Kontext auf die Wahrnehmung religiöser Symbole in der Gesellschaft auswirkt. Durch Interviews aus Feldforschungen im Gastarbeitermilieu illustriert er, wie sich das Verhältnis von Gästen und Gastgebern durch die Übernahme neuer Rollen bis heute entwickelt hat. Der Beitrag bietet eine neue Perspektive auf die Ursachen gesellschaftlicher Konflikte. Demnach entstünden Auseinandersetzungen im religiösen Feld oftmals aufgrund bestimmter sozialer Konstellationen und weniger aufgrund der religiösen Divergenz. Dies scheint auch auf den Minarett-Streit zuzutreffen.
Vanessa Meiers Diskursanalyse ausgewählter schweizerischer Tageszeitungen untersucht die Akzeptanz der Öffentlichkeit des Baus eines thai-buddhis­tischen Tempels. Im Gegensatz zur Minarett-Debatte sei hier die Berichter-stattung positiv und der Tempel werde von einer breiten Öffentlichkeit als Bereicherung in der Re­gion empfunden.
Auch die Beiträge von Annegret Kestler, Oliver Wäckerling und Rafael Walthert (mit Wäckerling) nähern sich der Debatte um religiöse Bauvorhaben in der Schweiz jeweils durch eine Diskursanalyse der nationalen Medien. Kestler stellt drei Fallbeispiele mit unterschiedlichem Konfliktpotential vor: das Bauvorhaben einer serbisch-orthodoxen Kirche, eines Sikh-Tempels und eines Minaretts. Sie legt die epistemologischen, politischen und ästhetischen Di­mensionen der Diskurse offen und zeigt auf, wie sich diese auf das jeweilige Bauprojekt ausgewirkt haben. Wäckerling untersucht den lokalen Ursprung des nationalen »Minarett-Streits« und den medialen Diskurs zum Minarettbau in Wangen 2005. Er zeichnet die Dynamik eines Konfliktes nach, der primär in den Medien ausgefochten wurde. Daran knüpft der Beitrag von Walthert und Wä-ckerling an, indem die hier zum Tragen kommenden islamophoben Deutungsmuster aufgeschlüsselt werden. Hierbei zeigen die Autoren, wie diese durch einzelne Akteure geprägt wurden und in den Minarett-Streit transferiert wurden. Dabei wird auch nachgezeichnet, wie die Diskussion um ein lokales Bauvorhaben zu einer Problematisierung »des Islams« in der ganzen Schweiz wurde.
Der Band bietet sowohl ein breites Spektrum theoretischer Zu­gänge als auch zahlreiche Fallbeispiele aus dem Bereich der »sichtbaren Religion«. Walthert führt diese Vielfalt zusammen, abstrahiert wichtige Erkenntnisse und gibt interessante Impulse für die weitere Forschung. Es bleibt einzig zu kritisieren, dass trotz des Facettenreichtums der Beiträge die Perspektive der religiösen Ak­teure, außer bei Grigio, nahezu unbeachtet bleibt. Gerade in Bezug auf den Minarett-Streit, der viel Raum einnimmt, wäre es sicherlich ertragreich gewesen, einen Einblick über den Stellenwert religiöser Bauwerke bei Muslimen in der Schweiz zu erhalten. So hätten beispielsweise neben den verschiedenen Diskursanalysen, die Aufschluss über die Debatte in der medialen Öffentlichkeit geben, qualitative Interviews mit Muslimen einen interessanten Blickwinkel auf die Sichtbarkeit religiöser Identität eröffnen können.