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Ausgabe:

Juni/2014

Spalte:

699–702

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Futterknecht, Veronica, Noseck-Licul, Michaela, u. Manfred Kremser [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Heilung in den Religionen. Religiöse, spirituelle und leibliche Dimensionen.

Verlag:

Münster u. a.: LIT Verlag 2013. 512 S. = Schriftenreihe der Österreichischen Gesellschaft für Religionswissenschaft, 5. Kart. EUR 39,90. ISBN 978-3-643-50443-2.

Rezensent:

Andreas Heuser

Dieser umfangreiche Sammelband widmet sich der Bedeutung religiöser, mithin ritueller wie spiritueller Dimensionen in Heilungsprozessen. Er gewährt einen Einblick in die Vielfalt und in die Relevanz religiöser Heilungstraditionen, ohne dabei einen repräsentativen Anspruch zu stellen oder die Einzelstudien unter den Vorgaben einer komparativen Systematik zusammenzuführen. Leitgedanke ist die Annäherung an eine existentielle Sehnsucht nach Heilung, die übergeschichtlich wie kulturübergreifend feststellbar ist, und Krankheit kontextuell gedeutet und der Um­gang mit ihr kulturell-spezifisch ausgestaltet wird. Das Grundanliegen des Buches geht zurück auf einen Forschungstag der Österreichischen Gesellschaft für Religionswissenschaft, der im November 2007 an der Universität Wien durchgeführt wurde. Die dort vorgestellten Forschungsbeiträge bilden in einer für die Schriftfassung überarbeiteten und erweiterten Form den Kernbestand des Buches, das sich durch seinen Fallstudiencharakter auszeichnet, wobei es angereichert wird durch grundständige Einführungen zum Stellenwert von Heilung vor allem in den Weltreligionen. Der Band ist interdisziplinär ausgerichtet, vereint im We­sentlichen aber religionswissenschaftliche, theologische und ethnologische Perspektiven auf das Thema.
Spiritus rector und Mitherausgeber des Bandes ist der Wiener Ethnologe Manfred Kremser (1950–2013). Auf ihn, der offenbar kurz nach Drucklegung im März 2013 frühzeitig verstarb, geht eine grundlegende Einsicht zum inneren Zusammenhang von Heilung und Religion zurück, die sich im Einleitungsteil (verantwortet von V. Futterknecht) findet. Diese längere Passage (24) sei im Angedenken an Manfred Kremser, der keinen Eigenbeitrag zum Band lieferte, hier wiedergegeben:
»Ein Blick in die Geschichte menschlicher Heilkünste und die unterschiedlichsten medizinischen Wissenssysteme traditioneller Kulturen weltweit zeigt, dass Heilung zumeist im rituellen und spirituellen Kontext stattfindet. […] Die meisten Heiler und traditionellen Medizinsysteme versuchen, ihre Patienten wieder zu Harmonie und Balance mit sich selbst, ihrer Umgebung und dem Kosmos zu führen. Diese anthropologischen Grundwahrheiten von Gesundheit und Heilung haben sich seit Anbeginn der Menschheit bewährt.«
Dieser Einsicht folgend, schreiten die Autoren die Welt der Religionen ab, wobei sie allerdings den Horizont der sogenannten »traditionellen Kulturen« erheblich erweitern. Der in die breitere Forschungslandschaft sich öffnende Blick offenbart sich in der Struktur des Buches, das in drei Hauptteile gegliedert ist:
Der erste Hauptteil widmet sich der »Heilung in den Weltre-ligionen«. Hierunter werden die »abrahamitischen Religionen« (J. Figl) gefasst, denen ein Beitrag zum Buddhismus (V. Zotz), aber auch zum Stellenwert der Heilung im Sikhismus (L. Handrich) an die Seite gestellt wird. Mit Erörterungen zum Stellenwert der Angelogie (M. Noseck-Licul) erfährt Heilung im Christentum eine zusätzliche Note. In einem zweiten Hauptteil kommen ergiebige Fallstudien zu Heilung in einzelnen ethnischen Religionen zum Zuge. Nach einem Überblicksartikel zu jüngeren Forschungsansätzen zum Verstehen schamanischer Heilrituale (V. Futterknecht) kommen mittel- und südamerikanische ethnische Religionen in den Blick. Regionale Schwerpunkte bilden Mexiko und Brasilien, thematisch geht es um indianische (E. Puchegger-Ebner) wie um afro-brasilianische (G. Csanádi) Seelenkonzeptionen und um mu­siktherapeutische Gesichtspunkte (B. Brabec de Mori). Fernöstliche Heilungstraditionen werden dargestellt anhand der Verschmelzung von buddhistischer und schamanistischer Heilpraxis in Burma (V. Futterknecht) wie durch Fallbeispiele zu Initiationspraktiken traditioneller Heilerinnen in Japan (I. Prochaska) und daois-tischen ungewollten Geistbesetzungen in Taiwan, die als Ursache von Krankheit gelten (S. Bayer). Abschließend folgen afrikanische Fallstudien zum Bori-Kult der nicht-muslimischen Hausa in Nigeria und Niger (J. Vogl) sowie den im Süden Madagaskars verbreiteten Bilo- und Tromba-Heilritualen, in denen Musik eine tragende mediative Rolle zukommt, um mit der Sphäre von Geistern in heilenden Kontakt zu treten (A. Schmidhofer). Der dritte Hauptteil weicht von den bis dahin geltenden Gliederungsprinzipien nach einzelner Religionstradition und geographischer Region ab und befragt transkulturelle wie transreligiöse Heilungsperspektiven. In diesem Hauptteil geht es zentral um den Komplex von post-moderner Spiritualität und Heilung (B. Heller). Es wird nach der transkulturellen Attraktivität neo-schamanistischer Heilrituale ge­fragt, die in transnationalen Vernetzungen verbreitet werden (F. Graf). Hier – und nicht bereits in Ergänzung zum islamischen Heilungsverständnis im ersten Hauptteil – findet sich zudem ein Beitrag zum Sufismus, der aus zentralasiatischem wie türkischem Erfahrungskontext entfaltet wird (G. Tucek). Weitere durch ihre Körperdynamik sich auszeichnende Heilmethoden – körperliche Bewegungsschulen (Feldenkrais-Methode und Vipassana-Meditation, M. A. Luger) oder ekstatische Tranceerfahrung (S. Jarausch) – runden diesen Teil ab. Insgesamt stellt sich der dritte Hauptteil insbesondere der praktischen Umsetzung und Anwendung sol-cher Methoden. Daher ist es folgerichtig, wenn in diesem Kontext gesundheitspolitische wie institutionspolitische Erwägungen an­gestrengt werden, die die Alltagsrealität von Heilung im Krankenhaus in Augenschein nehmen (E. Hofstätter) und institutionelle Rahmenvorgaben daraufhin befragen, inwiefern diese sich den religiösen Perspektiven von Heilung durch die Anerkennung von komplementären Heilmethoden annähern können (M. Noseck-Licul).
Damit schärft der Band insgesamt die Konturen von vielfach als »esoterisch« empfundenen Heilmethoden und stellt den Stellenwert von musiktherapeutischen Zugängen zu Heilung deutlich heraus. Die dargebotene Vielfalt der religiösen Bewegungen und Heilungstraditionen ist beachtlich und die geographische Spannbreite der Einzelstudien bemerkenswert wie auch ihre Tiefenschärfe in religionsgeschichtlicher Hinsicht. Eine Randerscheinung freilich bildet die lediglich summarisch behandelte globale Pfingstbewegung. Wie Johann Figl in seinem Beitrag zu abrahamitischen Religionen andeutet, weisen die christlichen Heilungsbewegungen, zu denen charismatische und pfingstliche Kirchen zählen wie auch die breite Bewegung Afrikanischer Unabhängiger Kirchen, eine lange zurückreichende religiöse Tradition auf, aus deren geschichtlicher Prägekraft sich auch ihr gegenwärtig zu verzeichnender Boom mit erklärt (37). Die Themeneinheiten von Heilung und Globalisierung, die der Sammelband im abschließenden Teil vorschlägt, laufen nahezu zwangsläufig darauf hinaus, die Pfingstbewegung mit ihren rituellen Heilungspraktiken in den Blick zu nehmen. Die Abwesenheit eines Kapitels zu dieser derzeit wohl dynamischsten Religionsform in sich verändernden weltweiten Religionstopographien erweist sich aus meiner Sicht als fulminante Leerstelle in einem ansonsten gut lesbaren Band.