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Ausgabe:

April/2014

Spalte:

507–508

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Zillich-Limmer, Simone

Titel/Untertitel:

Systemische Therapie und Prak­-tische Theologie. Impulse aus der Beratungspraxis für eine grundlegende Verhältnisbestimmung.

Verlag:

Berlin u. a.: LIT Verlag 2012. 448 S. m. 1 CD (m. weiteren 182 S.) = Praktische Theologie interdisziplinär, 4. Kart. EUR 49,90. ISBN 978-3-643-11149-4.

Rezensent:

Günther Emlein

Die Theologin und Klinikseelsorgerin Simone Zillich-Limmer geht der Frage nach, »ob das in der seelsorgerlichen Praxis sich mehr und mehr durchsetzende Modell Systemischer Therapie mit systematisch-theologischen Grundauffassungen vereinbar ist« (58). Sie spezifiziert die Frage dahingehend, »wie Absolutheitsanspruch christlicher Religion und Subjektivitätspostulat des Konstruktivismus in Einklang zu bringen sind« (345).

Mit den Kriterien von Gottesbild, Menschenbild und Weltbild überprüft sie exemplarisch vier Positionen der theologischen Auseinandersetzung (Dalferth, Weidhas, Klein, Wallich), deren ge­meinsamer Bezugspunkt der Konstruktivismus ist (und nicht die Systemtheorie, wie die Vfn. unterstellt), und fünf poimenische Konzeptionen (Emlein, Ferel, Held, Morgenthaler, Herthneck), die systemische Ansätze für die Seelsorge fruchtbar gemacht haben. Auf beiliegender CD sind persönliche Interviews und eine Darstellung der Interviewmethodik dokumentiert. Auf eine ausführliche Darstellung der Grundlagen systemischer Therapie folgt eine theologische Auseinandersetzung mit den Entwürfen. Nach der anschließenden Auswertung der Interviews entwirft die Vfn. eine eigene Konzeption »christlich-systemischer Seelsorge«.

Systemisch sei Seelsorge dadurch, dass sie mit Menschen »in-nerhalb ihres Generationen übergreifenden, familiären Lebenssystems« (369) arbeite. Christlich sei an Seelsorge, dass sie auf die Suche nach den Spuren Gottes gehe (370). Voraussetzung der christlichen Weltanschauung (sic) sei, dass Gott ist (existiert?); Theologie könne auf ihren Gegenstand (sic) schwerlich verzichten (371 f.), wo der Konstruktivismus zu metaphysischen Fragen schweige (315). »Christlich-systemisch« sei allerdings keine Addition, sondern es gehe um eine Synthese auf der Ebene von Beziehungen. Mit Buber und Heyward suche Seelsorge nach dem Zauber der wahren (!) Begegnung, in deren Prozess Gott als die Macht der Liebe in der Beziehung erkannt werden könne (377). Es gehe um ein Wirken Gottes im Zwischenmenschlichen (378). In Beziehungen sei das Ringen um Glaubenswahrheiten (389) allerdings nur möglich um den Preis, dass Seelsorge auf den religiösen Absolutheitsanspruch verzichte (397).

Dass die systematische Theologie generell von einem Absolutheitsanspruch träume, finde ich abwegig; ein solcher gehört in jene Zeit, als Religion noch die Welt verbindlich zu erklären vermochte. Von Glaubenswahrheiten zu reden, führt selbst ontologische Im­plikationen mit. Ontologisch verwendet die Vfn. den »Menschen« und das »Subjekt«, aber auch »das« Evangelium, »die« Beziehung, die »wahre« Begegnung, die »Macht Gottes«. Es finden letztlich ontologische Verschiebungen statt, die Vfn. ersetzt die Ontologie des Absoluten (Transzendenz) durch eine Ontologie des Intersubjektiven (Immanenz). Der Import politischer Nomenklatur (Gott als Macht) belegt zudem selbst den Verlust von Transzendenz, des Jenseits aller Denkmöglichkeiten, auch des Denkens »in Beziehungen«.

Die Seelsorgebewegung hat sich viel Kritik eingehandelt, weil sie Religion durch Religionspsychologie ersetzt und damit Transzendenz streicht. Der Vorschlag der Synthese, mit dem die Vfn. dem Zwitter »Pastoralpsychologie« beikommen möchte, geht genau diesen Weg. Die Theorieform des Gottesbeweises (»Spuren Gottes«) ist dazu noch in die Jahre gekommen.

Der Einwand der Diesseitigkeit wird nur am Konstruktivismus vertäut (311) – als ob dies nicht auch für Theologie und für Beziehungen gälte. Konstruktivismus sei dennoch »eine Art Ersatzreligion« (314) – diese Aussage ist nur möglich auf dem Hintergrund der Bestimmung von Religion als Weltanschauung, einer eher schlichten Version von Religion. An Konstruktivismus und systemischer Therapie sieht die Vfn. Selbsterlösungstendenzen (309), ohne zu klären, was sie mit Erlösung meint; Befreiung von den Grenzen der Kreatürlichkeit jedenfalls nimmt meines Wissens niemand in Anspruch.

System bestimmt die Vfn. als zusammengesetzte Einheit, deren Elemente im Voraus vorhanden seien und Relationen bildeten (101). Die Metapher »steht für ein Konstrukt, das zunächst in der Vorstellung der Beteiligten entsteht und durch mehr oder weniger bewusste Übereinkunft gestaltet wird« (ebd.). Ein System sei also ein Konstrukt, das durch Übereinkunft (!) der am System Beteiligten entstehe, in deren Vorstellungen es seinen Ausgang genommen habe.

Zum einen ontologisiert diese Aussage die Beteiligten (sie müssen schon existieren, bevor sie ein System »bilden«), zum anderen taucht das System mehrfach auf: als Konstrukte mehrerer Agenten, als Übereinkunft – mehr (?) oder weniger (?) bewusst – dieser Agenten, als Beziehung zwischen den Agenten und als Voraussetzung dafür, dass Einzelne zu Beteiligten werden. Das ist erkenntnistheoretisch und logisch verwegen. Ich fand weitere Aussagen, die durch die Literatur der systemischen Therapie nicht gedeckt sind: »Grenzen eines Systems tragen zu dessen Bewusstheit über sein ICH bei« (347). Nun haben also auch Systeme (Konstrukte!) ein Ich; das hat ihnen bislang noch niemand attestiert. Die Beschreibungen systemischer und theologischer Positionen von Seiten der Vfn. werfen Fragen auf.

Seelsorge beruht auf Kommunikation. Als Kommunikation be­stimmt die Vfn. die Mitteilungen von Absendern an Empfänger (107): Das ist Watzlawick und nicht Systemtheorie. Das Ziel von Kommunikation mit Konsens, gemeinschaftlicher Realität und Kongruenz (107.343) zu beziffern, ist weder Watzlawick noch Buber noch Systemtheorie, sondern Habermas. Es sind miteinander inkompatible Ideen und Positionen, die die Vfn. zusammenfügt, ohne die Konsistenzprobleme zu sehen. Diese leider in der Theologie vielfach anzutreffende Eigenheit zieht sich durch das gesamte Buch. Die Zusammenfügung der Komponenten wird allein aufgrund von deren Anzahl letztendlich wohl doch additiv aufgefasst, und das Dilemma des Zwitters Pastoral-Psychologie wird verdeckt durch ein Plädoyer für Ganzheitlichkeit: »Aus den beschriebenen Zusammenhängen kann nun gefolgert werden, dass christlich-systemische Seelsorge an dem Schnittpunkt von Hermeneutik, Kommunikationsforschung, Psychosomatik, Sozialwissenschaft, Theologie, Tiefenpsychologie und Systemischer Therapie steht. Aus diesem Grund kann der Mensch nur ganzheitlich und innerhalb übergreifender Gesamtzusammenhänge gesehen werden« (384).

Zu Theorie als Programm der Wissenschaft, mit der man solche Konsistenzprobleme hätte lösen können, schreibt die Vfn. belle­tris­tisch: »Der Begriff ›Theorie‹ lässt an ein festes Gebäude denken. Meist wird er mit Niklas Luhmanns systemtheoretischem Verständnis in Verbindung gebracht …« (62). Und wo der Beobachter – anders als bei Luhmann – gar zum Subjekt avanciert (338), wird die durch das ganze Werk durchgehaltene Verwechslung von Subjekt und subjektiv deutlich.

Bei solchen selbstgefertigten Schwierigkeiten finde ich es umso erstaunlicher, dass das Zweitgutachten diese Arbeit (so der Klappentext) nicht nur als theorieorientiert, sondern gar als metatheoretisch feiert.