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Ausgabe:

April/2014

Spalte:

505–506

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Roy, Lena-Katharina

Titel/Untertitel:

Demenz in Theologie und Seelsorge.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2013. XII, 346 S. = Praktische Theologie im Wissenschaftsdiskurs, 13. Geb. EUR 99,95. ISBN 978-3-11-030297-4.

Rezensent:

Martina Plieth

In ihrer jüngst erschienenen Dissertation entwickelt Lena-Katharina Roy ein inklusives, nicht-reduktionistisches Verständnismodell zur personalen Beschreibung von demenziell erkrankten Menschen und konturiert vor dessen Hintergrund eine multiperspektivische und methodisch mehrdimensional ausgerichtete Seelsorge im Kontext von Demenz.

Sie vermittelt dabei einen guten Überblick über die vielfältigen, bislang geführten Demenzdiskurse (zentrale Stichworte: Demenz in historischer, epidemiologischer, pathologischer, pflegerischer, systemischer, gesundheitsökonomischer und kybernetischer Perspektive), weist zu Recht auf deren fehlende Verknüpfung hin und fordert sinnvollerweise wechselseitige Wahrnehmung und umfassende Vernetzung, da nur durch sie eine mehrdimensionale Be-­rücksichtigung des komplexen Demenzphänomens bzw. die Herausbildung demenzgerechter Betreuungs- und Behandlungsformen mit neuen Infrastrukturen ermöglicht werden kann (Kapitel 2). Außerdem weist sie überzeugend nach, dass in den besonders häufig rezipierten gegenwärtig bestehenden und gesellschaftlich relevanten Demenzparadigmen (1. »Biomedizinisches Paradigma«, 2.»Psy­chosoziales Paradigma« und 3. »Demenzparadigma der Validation« – Kapitel 3) trotz teilweise durchaus differenzierter Anlage ein reduktionistisches Menschenbild zugrunde gelegt wird und so die Gefahr einer Entpersonalisierung von Menschen mit Demenz besteht. Letzteres führt zu einer kritisch-ablehnenden Auseinan-dersetzung mit dem interessensethisch ausgerichteten Personbegriff Norbert Hoersters (»Verstand und Ichbewusstsein als zentrale Personalitätskriterien«) und einer kritisch-bejahenden mit den anthropologischen Ansätzen von Hermann Schmitz (»Leiborientierte Phänomenologie«), Søren Kierkegaard (»Mensch als Syn­-these«), Wilfried Härle (»Schöpfungstheologisches Verständnis des Menschen als Ebenbild Gottes«) und Henning Luther (»Fragmentarisch orientiertes Subjektverständnis«) (Kapitel 4). Deren Ergebnisse aufnehmend werden grundlegende Aspekte christlicher Anthropologie für eine theologische Demenzbetrachtung benannt (zentrale Stichworte: »Gottebenbildlichkeit«, »Fragmentarität«, »Relationale Verfasstheit«, »Leiblichkeit« und »Abschiedliche Existenz« – Kapitel 5) und in einem sogenannten »Fokusmodell« miteinander verbunden. Daran anschließend kommen konkrete poimenische Konsequenzen einer Seelsorge im Kontext von Demenz im Umfeld von Gottesdienst als Wirken Gottes am Menschen, Biographiearbeit im Sinne der wiederholbaren Mitreise in die Ver­-gangenheit, Bibliolog als Beziehungsgeschehen zwischen Selbst-, Fremd- und Gottesbezug, Leibsorge als seelsorglicher Form der Leibkommunikation und Einüben von Abschiedsritualen mitten im Alltagsleben und speziell am Lebensende zur Sprache (Kapitel 6). Im Vordergrund steht dabei immer das Postulat, Menschen mit Demenz seien trotz oder sogar wegen mancher Beeinträchtigungen ihres Beziehungslebens in ihrer prinzipiell relationalen Verfasstheit wahr- und als Subjekte ernst zu nehmen und gerade dort bei der Herausbildung und Erhaltung ihres Selbst-, Fremd- und Gottesbezuges zu unterstützen, wo sie beziehungsgestört oder be­ziehungslos erscheinen.

Besonders zu empfehlen ist R.s Arbeit denjenigen, die sich für theologische Grundlagenforschung interessieren, sich bereits in­tensiver mit den Themenkomplexen Demenz, Anthropologie und Poimenik/Seelsorge befasst haben und nach Maßstäben bzw. Be­wertungskriterien für die Wahrnehmung von und den Umgang mit Menschen mit Demenz in Theorie und Praxis suchen. Sie erhalten nicht nur eine Vielzahl von erhellenden Einzelinformationen, sondern auch gute Zusammenschauen und weiterführende Denk- und Handlungsimpulse. Weniger geeignet erscheinen R.s Ausführungen für all diejenigen, die erst damit beginnen, sich dem De­menzphänomen sowie anthropologischen und poimenisch-seelsorglichen Grundsatzfragen anzunähern. Sie dürften mit der Kom plexität der dargestellten Materie und des Mediums Doktorar-beit verständlicherweise schnell ein wenig überfordert sein und bräuchten vermutlich an der einen oder anderen Stelle zusätzli-ches Hintergrundwissen, um die von R. zum Ausweis ihrer wis-senschaftlichen Befähigung angepeilte Ziellinie gewinnbringend überschreiten zu können.

Eine eher sekundäre, aber keineswegs unwichtige kritische An­merkung ganz zum Schluss sei noch erlaubt: Aus meiner Sicht wirklich bedauerlich ist der exorbitant hohe Preis von EUR 99,95. Es wäre nicht nur deshalb gut, wenn der Band in vielen Bibliotheken Aufnahme fände und so auch denen zur Lektüre zur Verfügung stünde, die nicht bereit oder in der Lage sind, annähernd EUR 100,00 für ein einzelnes – sei es auch ein gutes – Buch zu in-ves­tieren.