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Ausgabe:

April/2014

Spalte:

503–505

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Lorenz, Michael

Titel/Untertitel:

Das Wort im Spannungsfeld von Anrede und Interpretation. Erfahrungsbezug und Wirklichkeitsdeutung in der Predigt.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011. 263 S. = Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie, 69. Kart. EUR 64,99. ISBN 978-3-525-62415-9.

Rezensent:

Alexander Deeg

Michael Lorenz, Pfarrer in Weiden und mit dieser Arbeit in Bonn promoviert, hat ein mutiges Buch vorgelegt. Es handelt sich um eine der immer weniger werdenden praktisch-theologischen Qualifikationsarbeiten, die es wagen, in Auseinandersetzung mit der Literatur eine systematisch-theologisch orientierte und philosophisch inspirierte praktisch-theologische Position zu vertreten. Gleichzeitig hat L. ein für die homiletische Diskussion wichtiges Buch vorgelegt. Es geht um das, was Predigt ist, und um die Frage, wie sie gelingen kann, mithin um die Verbindung homiletisch-prinzipieller mit materialen und formalen Überlegungen. L. wehrt sich gegen die falschen Alternativen, die die homiletische Diskussion (zu) lange begleitet haben: Entweder die Predigtlehre widmet sich (in den Spuren der »Modernen Predigt« oder der Homiletik der empirischen Wende) den Erfahrungen von Menschen in der Ge­genwart (und vernachlässigt die prinzipiellen Fragen) oder sie versteht sich als Verkündigung des Wortes Gottes und tendiert dann dazu, in der Feststellung der Notwendigkeit des Auftrags und der menschlichen Unmöglichkeit seiner Erfüllung steckenzubleiben. Die Lösung, die L. anbietet, besteht darin, im Rückgriff auf Martin Buber und Gabriel Marcel und deren relationale Ontologie und Gerhard Ebelings Hermeneutik zu zeigen, »wie Gottes Wort heute als das Leben bestimmend und verändernd erfahrbar ist« (247) und wie daher so von Gott geredet werden kann, dass menschliche Er­fahrung angesprochen und gleichzeitig transformiert werden kann. Nicht zuletzt aber, auch das sei vorweg gesagt, hat L. ein eigentümliches Buch vorgelegt, in dem sich brillante Erkenntnisse und teilweise allzu flüchtig gearbeitete bzw. redundante Passagen abwechseln.

Der Aufbau des Buches ist stringent: An das knappe Vorwort (9–14) schließt sich eine Skizze zweier homiletischer Positionen des 20. Jh.s an: Hans-Rudolf Müller-Schwefe (15–73) und Wilfried Engemann (75–125) formieren das Spannungsfeld der homiletischen Diskussion, das der Titel von L.s Arbeit ankündigt: »Anrede« (Müller-Schwefe) und »Interpretation« (Engemann). Auf ein bündelndes und weiterführendes Scharnierkapitel (127–143) folgt eine Wahrnehmung der philosophisch-phänomenologischen Ansätze von Martin Buber und Gabriel Marcel (145–210), durch die L. zum »Entwurf einer prinzipielle, materielle und formale Fragen um­-fassenden hermeneutischen Homiletik« (211–257) geführt wird. Ein äußerst knappes Literaturverzeichnis von gut vier Seiten (zieht man die Beiträge ab, die aus ein und demselben Sammelband zitiert werden, sind es nochmals weniger; 259–263) schließt den Band ab.

Das klug analysierende und argumentierende erste Kapitel zeigt Müller-Schwefe als einen Theologen, der die Sprachlichkeit und Dialogizität des Predigtgeschehens in den Mittelpunkt rückt. Dabei allerdings führe, wie L. zeigt, die Hochschätzung des Be­griffs einerseits, die radikal gedachte Eschatologie andererseits zu einer Ausklammerung Gottes aus dem Geschehen der Welt. Dem steuert Engemann entgegen, indem er, wie Kapitel 2 zeigt, auf der Grundlage der Semiotik das Ineinander der Sprache des Glaubens und der Wirklichkeit der Welt als Grundlage der Predigt zu be­schreiben versucht. L. erkennt bei Engemann al­lerdings einen formalen Kurzschluss, wenn dieser »taktische Ambiguität« für die Predigt fordere, aber keine inhaltliche Bestimmung der Predigt wage und zudem den »Anredecharakter« der Predigt zu verlieren drohe.

Im dritten Kapitel bündelt L. diese Beobachtungen und spielt Ebelings theologische Sprachlehre als Gesprächspartner ein, mit der es möglich werde, die Erfahrung der Welt und die Sprache des Glaubens zu verbinden und Predigt als Begegnung von Gott und Mensch im Raum der Sprache zu konturieren. Besonders anregend erscheint mir die Beobachtung, dass es, L. zufolge, sein könnte, dass die Sprache des Glaubens deshalb so schwierig ist, weil sie sich auf Bereiche der Erfahrung stützt, für die gegenwärtig kaum eine Sprache vorhanden ist und die so »zu verkümmern drohen« (137).

Das vierte Kapitel ergänzt Ebelings Überlegungen durch phänomenologische Beschreibungen einer relationalen Ontologie des Menschseins in der Spur von Martin Buber und Gabriel Marcel, deren Ansätze erhellend, wenngleich auf schmaler Literaturgrundlage, vorgestellt werden. Mit Bubers Fundamentalunterscheidung »Ich-Du« und »Ich-Es« erkennt L. die Grenze semiotischer Beschreibung in der »Anrede«, in der es um Präsenz, nicht um Repräsentanz gehe (vgl. 152 f.). Durch Buber gerät auch das »Zwischen« in den Blick, das mit Marcel im Blick auf die Bedeutung der Intersubjektivität weiter ausgeführt wird. Gleichzeitig gewinnt L. von Marcel einen neuen Zugang zur Bedeutung der »Reflexion«, die bei Buber eher zu wenig Beachtung findet.

Aus alledem entwickelt L. im fünften Kapitel Grundlinien einer prinzipiellen Homiletik. Gesprächspartner ist hier erneut Ebeling und die von ihm ausgeführte Unterscheidung von Gesetz und Evangelium, die dieser als die »alles umfassenden Weisen des Handelns Gottes an uns durch sein Wort« (215) bestimmt. Weiterführend entwickelt L. nun allerdings eine überaus spekulative Gesetzeshermeneutik, in der das »Gesetz« als Chiffre für die Lebenswirklichkeit des Menschen jenseits des Zusammenseins von Gott und Mensch steht, u. a. für das »unmittelbar erlebte Ungenügen und vergebliche Bemühen um ein glückliches, erfülltes Leben« (223). Evangelium wird demgegenüber als Zusammensein von Gott und Mensch in Jesus Christus beschrieben. Ziel der Predigt ist es, inmitten der Welterfahrung als Gesetzeserfahrung das Evangelium als »treffendes und veränderndes Wort« (248) zu bezeugen. Dieses Predigtverständnis bringt L. abschließend mit Wilhelm Gräb (und über ihn vermittelt mit Schleiermacher) ins Gespräch.

Es bleiben Anfragen. Die belangloseste ist sicherlich die: Warum hat L. seine Arbeit nicht nochmals gründlich durchgesehen oder durchsehen lassen? Allein auf den vier Seiten des Literaturverzeichnisses finden sich 13 Rechtschreibfehler bzw. formale Fehler. Hinzu kommt die Fülle weiterer Fehler – vor allem in den Anmerkungen.

Nicht nur formal stellt sich die Frage: Warum sieht L. mit seiner Fragestellung nicht intensiver die Literatur durch? Es ge­nügt eben vielleicht doch nicht, lediglich einen Aufsatz von Karl Barth (und die Nachschrift von dessen Homiletik-Vorlesung) zur Kennt­nis zu nehmen und Namen wie Ernst Lange, Gerhard Marcel Martin, Albrecht Grözinger, Henning Luther oder Martin Nicol völlig zu übergehen. Die Arbeit nimmt die (vor allem zum ästhetischen Dis­kurs gehörenden) Fäden, die im deutschsprachigen Bereich bereitliegen, nicht auf. Erst recht knüpft sie nicht an das an, was etwa in den USA schon seit Jahren zu dem Thema erarbeitet wurde. Etwa bei Fred Craddock, Richard Lischer oder John McClure finden sich Reflexionen, die sich als weiterführend gerade darin hätten erweisen können, dass sie die Verbindung von Sprache und Weltwirklichkeit im Blick auf das theologisch zu beschreibende »Ereignis« der Predigt bedenken.

Inhaltlich stellen sich mir vier weitere Fragen, die teilweise bereits im Durchgang durch das Werk angedeutet wurden: 1. Inwiefern treffen die recht pauschalen Zeitdiagnosen L.s wirklich zu? Ist es, um nur ein Beispiel zu nennen, wirklich, wie L. behauptet, »für unsere Zeit […] selbstverständlich, strikt zwischen Welterfahrung und Gotteserfahrung zu trennen« (250)? 2. Inwieweit eignet sich die Kategorie des »Gesetzes« wirklich zur Beschreibung der Welterfahrung des Menschen? Im theologiegeschichtlichen Rück­blick sind daran die Positionen von Paul Althaus und Werner Elert gescheitert – und etwa Henning Luthers Überlegungen zu einer Theologie des Subjekts hätten L. vorsichtiger werden lassen können, was die Entwicklung einer abstrahierenden Gesamtschau der conditio humana betrifft. 3. Für ein Werk, das für sich beansprucht, die prinzipielle Homiletik neu zu durchdenken, ist es doch er­staunlich, wie knapp die Frage nach der Bibel und ihrer Hermeneutik gestreift wird. Hätten nicht auch die Sprachformen der Bibel das Potential, in den Zeitformen des Wortes Gottes mensch­-liche und göttliche Wirklichkeit zu verbinden (Rudolf Bohren)? 4. Bedauerlich erscheint mir, dass der Charakter der Predigt als Anrede, die mit Müller-Schwefe im ersten Kapitel zur Diskussion stand und durch Buber verstärkt wurde, im Lauf des Buches immer mehr aus dem Blick verschwindet. Auch sie hätte das Potential, das Wechselspiel von prinzipiellem, materialem und formalem Fragen neu in Gang zu bringen.

Summa summarum: L. hat ein anregendes, aufregendes und zur Diskussion sowie teilweise auch zum Widerspruch herausforderndes Buch zu Grundfragen der Homiletik und Predigtarbeit ge­schrieben.