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Ausgabe:

April/2014

Spalte:

497–498

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Mesch, Walter [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Glück – Tugend – Zeit. Aristoteles über die Zeitstruktur des guten Lebens.

Verlag:

Stuttgart: J. B. Metzler 2013. X, 278 S. Geb. EUR 39,95. ISBN 978-3-476-02458-9.

Rezensent:

Rainer Marten

Aristoteles misst sich als theoretischer Philosoph und geistiges Selbst an dem von ihm erdachten Gott, als praktischer Philosoph und Bürger an dem von ihm erdachten optimalen Zusammenleben in Gesellschaft und Gemeinschaft. Baut er auf den Grundsatz religiöser Poesie »Der Mensch ist kein Gott«, dann entwirft er spekulativ das wirklich gute Leben des ewigen Gottes als lustvollstes und bestes (Met. XII 7). Wird Lebendigsein durch Wachsein, Wahrnehmen und Denken nachgewiesen, so sind genau das die reinen und unaufhörlichen Wirksamkeiten ( energeia) Gottes. Was der im reinen Sichselbstdenken immer vollbringt, gelinge dem Philosophen bisweilen (pote). Das Menschenunmögliche kann selbst der Philosoph nicht sprengen: Er ist kein Gott (EN X 7). Die Unmöglichkeit, den spekulativen Entwurf seines Maßes mit seiner zeitlich-leibhaften Existenz einzuholen, führt zu keinem Kurswechsel. Die enthusiastischen Übertreibungen der Frühzeit, der Mensch sei zum Denken und zu nichts anderem geboren, spiegeln sich noch im Spätwerk: Der beste Teil des Menschen, der für das Wesen des ganzen steht, wird aufgefordert, sich um Unsterblichkeit zu bemühen (EN X 7). Der Appell, sich primär auf Geistigkeit zu entwerfen, hat, was dieser Band nicht thematisiert, im Politisch-Gesellschaftlichen das Äquivalent, Krieg zu führen, um des Friedens willen, und zu arbeiten, um der Muße willen (Pol. VII 15). Das Göttliche im Menschen bleibt leitend für philosophisches Engagement ( spoudê), was nicht hindert, Philosophie zugunsten des Lebens in Gesellschaft und Gemeinschaft zu instrumentalisieren. Das spricht für den Vorsatz, sich über die Zeitstruktur des guten Lebens bei Aristoteles zu verständigen. Dass der Mensch kein Gott ist, gilt signifikant für den Philosophen: Sein geistiges Leben ist ein zeitliches.

Die 15 Beiträge des Bandes zielen aspektreich auf Aristoteles’ Be­stimmung des guten Lebens, die Unterschiede aufweist. Der Theologe der »Ersten Philosophie« kann das Wort haben oder der Lebenserfahrene und auf allgemeines menschliches Gelingen Bedachte. Das führt zur Frage, ob Glück allein dem Philosophen oder allen politisch Freien offensteht: Gibt es ein höchstes Gut als Garanten des Glücks oder sind eine Mehrzahl von Glücksgütern dazu erforderlich, falls nicht doch das eine wie das andere zu menschlichem Glück gehört.

Mit guten Gründen ist in den Beiträgen die Ansicht dominant, dass der exklusivischen Deutung der Vorzug zu geben ist (Christoph Horn et al.). Unbestreitbar wird in der Nikomachischen Ethik die einzigartige Glücksmöglichkeit in der Tätigkeit geistiger Seelenkräfte (energeia von nous und phronêsis) gesehen. Auch als Entwerfer der besten Politeia bleibt Aristoteles der Einsicht treu, die ihm als spekulativem Gottdenker gelingt. Theoretisch und praktisch zu denken schließen sich für den, der weiß, kein Gott zu sein, nicht nur nicht aus, sondern gehören zusammen. Die Tugenden des Theoretikers und die des Praktikers bedingen einander (EN VI 13). Philosophieren verharrt bei ihm nicht im Selbstzwecksein, sondern wird für das Miteinander bedeutsam. Die in dem Band reichlich erörterten Glücksgüter (ob zum vollständigen Glück nicht auch gehört, Ansehen zu genießen und ein schönes Äußeres zu haben) hätten eine starke Erklärung haben können: Zum Glücklichsein (eudaimonein) gehört, Glück (eutychia – Zufall, der ein Glücksfall ist) zu haben. Wer z. B. nicht das Glück hat, gesund zu sein, wem also die eigene Körperlichkeit die zum höchsten Glück nötigen geistigen Tätigkeiten versagt, hat Pech gehabt. Nicht nur der Schlafende und der Tote sind nach diesem Entwurf nicht glücksfähig, sondern auch das Kind und der abgelebte Alte nicht (Christian Pietsch).

Gott, wie Aristoteles sein bleibendes Vorbild erdenkt, schläft nicht, hat keine Kindheit. Er ist ewig reine Selbsttätigkeit, ohne im lustvollsten und edelsten Selbstbezug anderes im Sinn zu haben als diese Tätigkeit. Für den theologischen Hermeneuten ist das die Vorgabe, den reinen Selbstvollzug seines göttlichen Seelenteils für sich selbst zu bejahen (Peter Nickl). Als Tugendhafter will er am meisten wegen seines denkenden Teils leben (EN IX 4). Lebt er daraufhin am liebsten mit seinem eigentlichen Selbst zusammen, so ist es verwunderlich, dadurch das Thema Freundschaft evoziert zu sehen. Gott ist ja in seinem lustvollsten Selbstbezug sich selbst kein Freund, das hieße ein Anderer. Der Solipsismus des Glücks, fest verankert in der spekulativen Optimierung der Autarkie, macht die exklusivische Deutung des Glücks bei Aristoteles notwendig zur vorrangigen, wenn auch nicht zur ausschließlichen (Walter Mesch).

Gebraucht Aristoteles philosophisches Denken im Politischen als Mittel, dann löst er seine selbstzweckhafte divine Bindung nicht auf, weil er jederzeit auf das Beste im Menschen und für ihn zielt. In Zeiten der Muße und des Friedens sei Philosophie unentbehrlich (Pol. VII 15). Als Zeiten des Glücks sind es Zeiten der Gefährdung des Glücks. Die Thematisierung der Zeitstruktur des guten Lebens hätte es nahegelegt, nicht nur die Zeiten zu erörtern, die Glück erschweren und unmöglich machen, sondern auch die, die der Mensch um ihrer selbst willen erstrebt, die er aber, sobald sie herrschen, durch den ihm einwohnenden Hang zur Maßlo-sigkeit zunichte zu machen droht. Das hätte den Blick, wie beim Glücksgut Frieden, auf zu teilendes Glück gelenkt.

Konvergiert Glück mit glückserfüllter geistiger Tätigkeit, dann wird die für das Glück erforderliche Wachzeit und, mit ihr verbunden, die schon von Platon inkriminierte Schlafzeit zum Problem. Das höchste Glück ist kein Zufallsglück, kein wechselndes, kein von Vergänglichkeit bedrohtes wie das Glück des Reichtums, auch keines des Augenblicks oder der kurzen Zeit. Das geforderte »le­benslang« zielt darum jedoch nicht, wie in Beiträgen klar herausgestellt wird, auf unausgesetztes Tätigsein, wohl aber auf die ein Leben lang immer wieder neu zu übende Wachheit des Geistes, die die Beständigkeit von Vernunft und Klugheit, für den Nicht-Gott freilich auch die der ethischen Tugenden voraussetzt ( Christian Horn, Jörg Hardy et al.). Ginge es rein nach dem Geist, wäre er unermüdlich (atrytos).

Höchstes Gut und diverse Glücksgüter – das ist keine strikte Trennung. Das theoretische Vorbild Gottes erhält im Freund ein praktisches Gegenstück. Im 7. Buch der Eudemischen Ethik (insbesondere von Friedemann Buddensiek berücksichtigt) ringen Theologe und Lebenspraktiker darum, theoretischen Anspruch und praktische Erfahrung vernünftig (eulogôs) auszugleichen. Ist Gott ohne Freund, weil vollkommen autark, dann treibt den Menschen sein Divines dazu, möglichst autark und ohne Freund zu sein. Am Ende darf jedoch der Praktiker als argumentativ geklärt feststellen, dass alle Menschen wünschen, der beste Mensch am meisten, »synergetisch« im Anderen zu leben: Wahrnehmen und Denken, Kontemplation (syntheôrein) und Mahlzeiten zu teilen. Das letzte Wort hat der dem geselligen Leben Zugewandte, nicht der theologische Spekulant.

Die Beiträge von Philosophen und Gräzisten repräsentieren auf hohem Niveau den Forschungsstand zur Nikomachischen Ethik. Auch Lesern, die nicht vom Fach sind, erschließt sich durch den Perspektivenreichtum der textnah gewonnenen Auslegungen (beispielhaft vorgeführt unter anderem von Jörg Hardy) Aristoteles’ Sicht des glückhaften und tugendhaften Menschen, die in Betracht zu ziehen noch heute für jedes Nachdenken über Ethik unverzichtbar ist.