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Ausgabe:

April/2014

Spalte:

480–482

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Soboth, Christian, u. Udo Sträter [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

»Aus Gottes Wort und eigener Erfahrung gezeiget«. Erfahrung – Glauben, Erkennen und Handeln im Pietismus. Beiträge zum III. Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2009. Hrsg. in Verbindung mit H. Lehmann, Th. Müller-Bahlke u. J. Wallmann. 2 Bde.

Verlag:

Halle (Saale): Verlag der Franckeschen Stiftungen; Wiesbaden: Harrassowitz 2012. XXV, 933 S. m. 41 Abb. u. 3 Tab. = Hallesche Forschungen, 33. Kart. EUR 124,00. ISBN 978-3-447-06800-0 (Harrassowitz).

Rezensent:

Thomas K. Kuhn

In den Jahren 1827–1828 veröffentlichte der vom aufgeklärtem Ju­-risten zum erweckten Pädagogen mutierte Leiter des südbadischen Rettungshauses in Schloss Beuggen, Christian Heinrich Zeller (1779–1860) seine dreibändigen »Lehren der Erfahrung für christ­liche Land- und Armenschullehrer«. Dieses aus der südwestdeutsch-schweizerischen Erweckungsbewegung stammende pädagogische Handbuch erlebte nicht nur bis 1883 insgesamt fünf Auflagen und wurde in den sogenannten »Stiehlschen Regulativen« des preu­-ßischen Geheimrats Ferdinand Stiehl (1812–1878) vom 1. Oktober 1854 für den Unterricht in den evangelischen Schullehrer-Seminaren der preußischen Monarchie empfohlen, sondern setzte in seinem Titel unübersehbar die aus dem 18. Jh. stammende Fokussierung auf die Erfahrung als erkenntnis- und praxisleitende Kate-gorie fort. Zeller synthetisierte dabei solche pietistischen und aufklärerischen Erfahrungskonzepte, wie sie sich im 18. Jh. in der Theologie, der Medizin, Pädagogik und Ästhetik beispielsweise ar­tikulieren konnten.

Deshalb spricht Christian Soboth in seinem gleichermaßen profunden wie anregenden »Vorwort« der anzuzeigenden Bände zu Recht von einer Konjunktur der Erfahrung im 18. Jh. und unterstreicht die Schwierigkeit, dieses seinerzeit allgegenwärtige Phänomen pointiert zu verstehen und zu beschreiben. Von besonderem Interesse wäre hieran anschließend die Frage, inwiefern sich der Bezug auf die Kategorie Erfahrung sowie die daraus resultierenden Konzepte – auch in kritischer Auseinandersetzung mit Pietismus und Aufklärung – im 19. Jh. fortsetzten, transformierten, modifizierten und artikulierten.

Der III. Internationale Kongress für Pietismusforschung unternahm deshalb 2009 in Halle an der Saale eine in breiter Perspektive angelegte Annährung an den semantisch überaus schillernden Begriff der Erfahrung. Unter dem Titel »›Aus Gottes Wort und eigener Erfahrung gezeiget‹. Erfahrung – Glauben, Erkennen und Handeln im Pietismus« liegen nun 63 der in Halle präsentierten Beiträge in einer zweibändigen Dokumentation vor. Dieser Kongress setzte die Thematik »Alter Adam und Neue Kreatur. Pietismus und Anthropologie« aus dem Jahr 2005 fort, dessen Studien 2009 er­schienen.

Die beiden nun publizierten, sorgfältig produzierten Bände, die durchaus ein Hardcover verdient hätten, dokumentieren die eindrucksvolle thematische Breite der neueren interdisziplinär aufgestellten Pietismusforschung in sieben Kapiteln. Es geht zunächst im ersten Kapitel in neun Aufsätzen um »theologische und philosophische Erfahrungskonzepte und ihre Kritik« und damit u. a. um die vielfältigen Diskurse über die Frage nach einem vornehmlich theologisch qualifizierten Begriff von Erfahrung. Die Aufsätze nehmen hier nicht allein pietistische Konzeptionen (Francke, Zinzendorf, Bengel, Dippel, Erdmann) in den Blick, sondern auch deren Kritik, wie sie beispielsweise Semler oder Kant formuliert haben. Die sechs Beiträge des zweiten Kapitels widmen sich den »Phänomenen religiöser Erfahrung« mit Blick auf die Erzählung von Bekehrungserlebnissen, auf das Kinderbeten, un­tersuchen die Begriffe »Ergriffenheit und Besessenheit« oder können anhand von autobiographischen Quellen und Erbauungs­büchern zeigen, dass die aus der theologisch durchaus pluriform kontextualisierten religiösen Erfahrung resultierende Haltung das Gebet gewesen ist.

Unter dem Titel »Angewandte Erfahrung in Homiletik, Pädagogik und Medizin« versammeln sich neun Abhandlungen, die zum einen liturgische und homiletische Perspektiven erörtern und beispielsweise nach einer »Homiletik des Affekts« im hallischen Pietismus fragen, in der sich ein markanter Wandel vollzieht, wenn der bekehrte, vom Heiligen Geist erfüllte Prediger zum Ausgangspunkt predigttheoretischer Konzeptionen wird. Zum anderen be­handeln die Studien neben dem Umgang mit der seinerzeit recht häufig verbreiteten Gehörlosigkeit und der musikpädagogischen Impulse Franckes auch den Erfahrungsbegriff in der frühneuzeitlichen pädagogischen Theorie und Praxis sowie Fallgeschichten aus der Medizin des 18. Jh.s. Hier kann erstens gezeigt werden, wie die öffentlichen Debatten über die modernen Naturwissenschaften im 17. Jh. den grundlegenden Kontext schaffen, in der Erfahrung eine pointierte Bedeutung erlangt, und zweitens wie unterschiedliche Erfahrungskonzepte schließlich in der pietistischen Pädagogik miteinander verschmelzen.

Wiederum neun Beiträge widmen sich dem Thema »Schreiben und Geschriebenes aus und mit Erfahrung«, indem sie beispielsweise Briefwechsel, »misslungene« Herrnhuter Lebensläufe, Tagebücher und Missionszeitschriften analysieren. Das Beispiel der Gespenster-Gutachten markiert einen Wandel und Rückgang des theologischen Gutachtens, wenn sich nach 1700 Theologen nicht mehr für Poltergeister und Gespenster zuständig fühlten, sondern vornehmlich medizinische und juristische Gutachter fortan entscheidungsleitend werden sollten.

Den zweiten Band eröffnen zwölf Aufsätze, die sich mit den »ästhetischen und künstlerischen Formulierungen von Erfahrung« auseinandersetzen. Neben sprachästhetischen Überlegungen und literaturwissenschaftlichen Zugängen zu Gellert, Klopstock und Moritz stehen auch Gesangbücher und Fragen der Architektur im Fokus. Hier geht es auch um pietistische Sprachkritik sowie um das Verhältnis von Sprache und Erfahrung bei Francke und Zinzendorf.

Das vorletzte Kapitel umfasst acht Studien über »Erfahrungen in und mit Gemeinschaften und Institutionen«, die sich u. a. der Bibliothek Carl Hildebrand von Canstein, den Herrnhuter Archiven, aber auch den Glauchaschen Anstalten sowie dem unternehmerischen Wirken von Francke und Carl Mez zuwenden sowie der Inszenierung des Sinnlichen in der Brüdergemeine oder auch Erfahrungsberichten jüdischer Konvertiten. Im letzten Kapitel der Dokumentation geht es in zehn Aufsätzen um »Erfahrene Räume und Zeiten«. Hier steht der »Raum« als historische Dimension zur Debatte, wenn beispielweise das Erbauungsbuch von Eberhard Friedrich Collin »Das gewaltige Eindringen ins Reich Gottes« (1722) auf die darin verwendeten Raum-Metaphern hin untersucht wird. Deutlich wird dabei, dass eine stärkere Betrachtung dieser Raumstrukturen für die Pietismusforschung – und m. E. darüber hinaus – auch für andere christliche Erneuerungsbewegungen anregend sein dürfte. Andere Beiträge untersuchen die Geheimprotestanten in Böhmen und Mähren, England kommt als Erfahrungsraum im frühen hallischen Pietismus zur Sprache wie auch missionsgeschichtliche und historiographische Aspekte. Dabei wird auch die enorm hohe Bedeutung des »eschatologischen Raumes« mit seiner chiliastischen Ausrichtung für pietistische Theorien und Praktiken beschrieben.

Die beiden umfangreichen Bände erschließen Personen- und Ortsregister, auf ein Verzeichnis der Verfasserinnen und Verfasser haben die Herausgeber bedauerlicherweise verzichtet.

Insgesamt gesehen bieten diese beiden Bände ein breites Spektrum durchaus lesenswerter Beiträge, die zu vielfältigen Ent-deckungen einladen. Wie auch in anderen vergleichbaren Dokumentationen stehen die einzelnen Beiträge zwar ohne engeren Bezug zueinander und werden jeweils mehr oder weniger gelungen unter einem thematischen Dach vereint. Sie dokumentieren aber, dass die Erforschung des Pietismus auch jenseits der Kirchen- und Theologiegeschichtsschreibung auf reges Interesse stößt. Es bleibt zu hoffen, dass von dieser wachsenden interdisziplinären Beschäftigung auch hinsichtlich der methodischen Zugänge zu­künftig produktive Anregungen ausgehen, denn innovative Herangehensweisen sind in den vorliegenden Bänden kaum zu finden.

Eine weitergehende und schärfere Profilierung des Begriffs der Erfahrung (und anderer zentraler Semantiken) im 17. und 18. Jh. müsste die hier vorgelegten Ergebnisse nun ins Gespräch mit anderen zeitlich parallelen Bewegungen bringen. Dazu sind aber – und das gilt für die Erforschung nicht nur der Frühen Neuzeit generell– methodische und perspektivische Erweiterungen unabdingbar, die zielstrebig die Grenzen einer bislang vorwiegend sektoral und exkludierend arbeitenden Forschung überwinden und die Chancen komparatistischer Analysen nutzen lernen. Um diese Anmerkungen zu konkretisieren, sei exemplarisch gefragt: Wie kann ein spezifisch »pietistischer« Erfahrungsbegriff präzise be­stimmt werden, ohne diesen im Kontext zeitgenössischer Diskurse – wie sie, um einige Beispiele zu nennen, in der protestantischen Orthodoxie, in der Aufklärung, in katholischen und jüdischen und naturwissenschaftlichen Kontexten geführt wurden, vergleichend zu verorten? Oder, um einen weiteren Aspekt aufzuzeigen: Wie veränderte sich beispielsweise »Erfahrung« in jenen religiösen Gruppierungen, die sich auf den älteren Pietismus rekurrierend im 19. Jh. um vielfältige Formen der Revitalisierung des Christentums in sich radikal wandelnden sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Kontexten zu kümmern bemühten? Wie haben diese Gruppen »Erfahrung« kommuniziert und medial transformiert? Und welchen Einfluss haben Formen religiöser Erfahrung auf Kulturpraktiken und Weltdeutungen? Solche Perspektiven einer methodisch erweiterten Forschung, die zudem im Pietismus mehr als eine vornehmlich »sozialreformerisch ambitionierte Frömmigkeitsbewegung« (XV) zu erkennen bereit ist, umreißt stichwortartig Christian Soboth. Für die im Anschluss an seine Denkanstöße weiter zu führenden Debatten und neu zu gewinnenden Forschungsaufgaben haben die beiden Bände zweifelsohne ein gewichtiges und tragfähiges Fundament gelegt.