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Ausgabe:

Mai/2014

Spalte:

648-650

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Radner, Ephraim

Titel/Untertitel:

A Brutal Unity. The Spiritual Politics of the Christian Church.

Verlag:

Waco: Baylor University Press 2012. 482 S. Geb. US$ 59,95. ISBN 978-1-60258629-1.

Rezensent:

Hanns Engelhardt

Die Grundproblematik, die den Ausführungen dieses Buches un­terliegt, besteht in den Ursachen und Folgen kirchlicher Spaltungen. Ephraim Radner, Anglikaner und Professor für Kirchengeschichte an der Universität Toronto, beklagt, dass die Aussagen über die Einheit der Kirche vielfach der kirchlichen Realität nicht gerecht würden, die Erforschung der tatsächlichen Probleme kirchlicher Spaltung aber nur geringes Interesse fände. Er schlägt vor, an die Stelle des »now wooden ecclesiastical term schism« so etwas wie eine kirchliche »Eristologie« zu setzen, worunter er »the study of hostility in its disorderung forms and forces« (4 f.) versteht.
Die Folgen kirchlicher Spaltungen können weit über den Be­reich des kirchlichen Lebens selbst hinausgehen. Der Vf. beginnt seine Untersuchung mit einer Analyse der Bedeutung christlicher Überlieferung und vor allem christlicher Uneinigkeit für die Haltung vieler Christen im Zusammenhang mit einerseits der Judenverfolgung im Deutschland des Dritten Reiches, andererseits dem Völkermord in Rwanda. Er findet z. B., dass die Anwendung von religiösen Begriffen, vor allem solchen, die im Zusammenhang mit religiösen Spaltungen stehen, auf als feindlich gesehene Volksgruppen erheblich zur Verschärfung des Konflikts in Rwanda beigetragen habe. Dazu weist er auf das von der kirchlichen Allgemeinheit zu wenig wahrgenommene Detmolder Schuldbekennt nis hin, in dem 1996 eine Gruppe rwandischer und westlicher Katholiken und Protestanten »confess that since the arrival of the first Europeans in Rwanda, we have seriously contributed to the increase of divisions in the Rwandan people«. Vor allem die sich in Kirchenspaltungen ausdrückende Geisteshaltung habe zu dieser Verschärfung beigetragen.
Ausführlich setzt der Vf. sich mit dem Versuch auseinander, durch die Unterscheidung von »Kirche als solcher« und ihren Mitgliedern diese »Kirche als solche« aus dem Verantwortungszusammenhang herauszuhalten. Diesen Versuch findet er nicht nur in dem bekannten Brief Papst Johannes Pauls II. zur Verstrickung kirchlicher Personen in die Ereignisse in Rwanda; er stellt auch in den deutschen evangelischen Kirchen – die Bekennende Kirche weithin eingeschlossen – ein starkes Bestreben fest, abgesehen von der Abwehr staatlicher Eingriffe in den kirchlichen Bereich gute Beziehungen zum NS-Staat aufrechtzuerhalten. Die besondere Be­deutung, die Bonhoeffer in diesem Zusammenhang hat, erkennt der Vf. an, stellt aber wiederum (nicht nur bei ihm) eine theologische Abwertung der Kirche fest, durch die dieser gerade in dem in Rede stehenden Bereich nicht mehr die erforderliche Bedeutung zukommen könne.
In einem weiteren Schritt betrachtet der Vf. die zeitliche Entwicklung des Ideals kirchlicher Einheit unter dem Titel »The Conciliar Ideal«. Er beschreibt die Entwicklung der Apostolizität, eng verbunden mit der bischöflichen Aufsicht, von der Zeit des Neuen Testaments an. In der Form der »apostolischen Synodalität« er­reicht sie die übergemeindliche Ebene. Ausführlich diskutiert der Vf. in diesem Zusammenhang die Unterscheidung von Bischöfen und Presbytern und die Verwischung der Grenze zwischen ihnen. Die Konkretisierung der Probleme steigt herab bis zu der im anglikanischen Bereich virulenten Frage der Überlappung jurisdiktioneller Grenzen; hier sieht der Vf. das Problem weniger in »›overlapping‹ boundaries but hostile or hermetic synods« bzw. in der Tatsache, dass »diverse churches do not share common council, in its extended theological sense.« (195)
Konziliarität betrachtet der Vf. als ein Organisationsmodell für etwas Fundamentaleres, das selbst in eher »monarchischen« Auffassungen kirchlicher Einheit zu finden sei: »agreement«; denn selbst monarchische Formen der Kirchenverfassung hingen letztlich von der Zustimmung des Kirchenvolkes zu zentralisierter Entscheidungsfindung ab. Der Vf. fragt deshalb unter dem Titel »The Limits of Consensus« danach, was unter Christen »agree« bedeutet. Er untersucht die Herausforderung einer Definition dieses Begriffes zunächst auf der Grundlage christlicher Erfahrung durch Betrachtung einiger typischer Beispiele konziliarer Konsensfindung (Chalkedon und die nichtchalzedonischen Kirchen; römisch- katholisch/lutherischer Dialog über die Rechtfertigungslehre; Ang­lican Covenant). Sodann arbeitet er jene Punkte menschlicher Praxis heraus, die einer stabilen Definition des Begriffes Schwierigkeiten bereitet haben. Für den gegenwartsinteressierten deutschen Leser von besonderem Interesse ist die kritische Untersuchung des Rechtfertigungsdokuments, die nicht nur die Kritik deutscher Theologen, sondern auch Stellungnahmen der Lutheran Church Missouri Synod sowie der in der Evangelical Lutheran Church in America beheimateten Theologengruppe »WordAlone« einbezieht, die schon das Konkordat zwischen Lutheranern und Episkopalianern vehement angegriffen hatte.
Anschließend wendet der Vf. sich dem Verfahren zu, in dem Konsens, »agreement«, entstehen kann. Er stellt eine »line of development from pneumatic to procedural providentialism« und weiter zum Konstitutionalismus des jungen »liberalen« Staates in England fest und zitiert Desmond Tutus Antwort auf die Frage nach dem anglikanischen Verständnis von Einheit mit »we meet«. Dieses »meeting« setzt Verfahrensregeln voraus. Schon das Dekret Frequens des Konzils von Konstanz hatte die kirchliche Einheit in Begriffen einer regelmäßigen Abfolge konziliarer Versammlungen definiert. Das Hervortreten des prozeduralen Aspekts fügt sich ein in die allgemeine, nicht auf Theologie und Kirche beschränkte Tendenz der »Legitimation durch Verfahren«, ohne dass die Existenz einer allgemein anerkannten fairen Verfahrensordnung gesichert wäre. Mit gutem Grund warnt der Vf. daher: »When dialogue becomes the very form of unity, engaged diversity becomes less a means to the truth than it constructs a new kind of truth itself, the vast and indefinable being of which multiplicity is but a series of aspects.« (302) Deshalb könne »procedural unity« nur eine notwendige und keine hinreichende Bedingung christlicher Einheit sein.
Abschließend expliziert der Vf. sein Grundanliegen: Gott hat beschlossen »to be ›one with‹ a person and with persons, and this oneness is given in the self-giving of God to this one enemy or set of enemies.« Die Einheit der Kirche besteht in dem »giving over of and standing beside of God’s self within a ›community of enemies‹« (460). Deshalb sind »the structures, decision making, and choices that touch upon Christian unity […] central to the gospel and to human flourishing« (462).
Der Vf. trägt eine gewaltige Fülle von Material zu dem Fragenkomplex von Einheit, Spaltung und Wiederherstellung der Einheit zusammen. Nicht jeder Leser wird allen Folgerungen zustimmen, die er zieht. Aber was er schreibt, ist bedenkenswert. Wer sich mit der Geschichte der kirchlichen Spaltungen und den Möglichkeiten ihrer Heilung befasst, wird daran nicht vorbeigehen können. Das Buch gehört in jede theologische Fakultätsbibliothek und nicht nur dorthin. Eine Warnung zum Schluss: Man sollte das Buch zweimal lesen; denn dem durchschnittlichen Leser, der – wie auch der Rezensent – nicht über eine geradezu prophetische Genialität verfügt, erschließt vieles sich in seiner tieferen Bedeutung erst vom Ende her.