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Ausgabe:

Mai/2014

Spalte:

598-601

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Graf, Friedrich Wilhelm

Titel/Untertitel:

Der heilige Zeitgeist. Studien zur Ideengeschichte der protestantischen Theologie in der Weimarer Republik.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2011. VI, 527 S. Kart. EUR 49,00. ISBN: 978-3-16-150430-3.

Rezensent:

Christian Polke

Friedrich Wilhelm Graf, der unlängst seinen 65. Geburtstag feierte, gilt zweifellos als eine der wortgewandtesten und einflussreichsten protestantischen Stimmen und als Ideengeber unserer Gegenwart. Dazu trägt sein ebenso pointierter wie galanter Stil bei, mit dem er durch Zeitungsartikel, Essays und Bücher stets Debatten zuzuspitzen und zu bereichern versteht. G. ist aber auch einer der profundesten Kenner der neueren Theologiegeschichte, ein ausgewiese-ner Fachmann für die vielfältig verschlungenen Pfade protestan-tischen Denkens seit den Tagen der Aufklärung. Auf diesem Feld startete er einst seine wissenschaftliche Karriere und begleitet es bis auf den heutigen Tag durch editorische Großprojekte ebenso wie durch detail- und kenntnisreiche Studien. Umso schöner, dass durch den hier anzuzeigenden Band mit dem – wen würde es noch wundern! – wiederum provokativ-eingängigen Titel »Der heilige Zeitgeist« erstmals die wichtigsten Abhandlungen zur protestantischen Theologiegeschichte der Weimarer Zeit vorliegen.
G. geht es dabei nicht einfach um eine als Ideengeschichte gekennzeichnete Geistes- oder Theologiegeschichte. Dies würde schon methodisch allzu sehr jenem Geist entsprechen, den er mit Ernst Troeltsch, Kurt Nowak u. a. als »antihistoristische Revolu-tion« (vgl. 112 u. ö.) kritisch gegenübersteht. Die überwiegende Mehrzahl der in diesem Band versammelten Studien sind einzelnen Theologen gewidmet, deren intellektueller Werdegang nachgezeichnet wird. Jedoch gilt ein besonderes Interesse in diesen theologiegeschichtlichen Prospekten der Formierungsphase, wie sie sich aus der Betrachtung zeitgeschichtlicher Mentalitäten und Milieus rekonstruieren lässt. Ideengeschichte verbindet sich hier mit kritischer Zeitgeistanalyse.
Dass sich ausgerechnet die Weimarer Zeit als exemplarisches »Laboratorium der Moderne« (vgl. 3) als thematischer Fluchtpunkt eignet, hat auch mit G.s eigener theologischer Position zu tun, die er sich bemüht, standpunktversiert und standortreflexiv in der Auseinandersetzung mit den Stimmen von so unterschiedlichen Denkern wie Karl Barth, Paul Tillich und Otto Baumgarten, Martin Rade, Friedrich Gogarten oder Reinhold Seeberg zu konturieren. Unter dem Topos »Weimar« lassen sich so unterschiedliche Stichworte wie weltanschaulicher Pluralismus, erste Demokratie auf deutschem Boden und eine Milieus und Schulen übergreifende Krisenrhetorik bündeln: »Die Weimarer Jahre waren in der protestantischen Universitätstheologie eine Zeit hoher intellektueller Erregung, geprägt von radikaler, avantgardistischer Aufbruchsdynamik, harten Generationenkonflikten, scharfen Deutungskämpfen um zentrale theologische Begriffe und viel kirchenpolitischem Streit.« (3 f.) Krise ist somit das entscheidende Wort zur Zeit. Und es ist gerade jene Ambivalenz der Weimarer Jahre, jene Ambivalenz ihrer »Zeitgeister«, von der eine Faszination ausgeht, die von der Geschichtsforschung allerdings nicht einlinig als Ermöglichung von Faschismus und nationalsozialistischem Regime rekonstruiert und gedeutet werden darf (vgl. 77 ff.). In Weimar, so betont es G. zu Recht, »wurden jene Geistesrevolutionen inszeniert, die die Ge­schichten der akademischen Theologie bis mindestens in die späten 1970er Jahre hinein tiefgreifend prägten – keineswegs nur im deutschsprachigen Raum.« (3) Man muss nicht der Formel historia magistra vitae beipflichten, um zu erkennen, was eine historische Analyse und Deutung dieser Jahre für das bessere Verständnis der Gegenwart, will sagen: unserer theologischen Denk- und Argumentationsmuster, austragen kann.
Um wenigstens in aller Kürze einen Einblick in das breitgefächerte Themenspektrum des Bandes zu geben, sollen hier wichtige Studien genannt werden. Neben der schon erwähnten Abhandlung über die semantischen Umbesetzungen und theologischen Deutungen, die sich mit der sogenannten »anti-historistischen Revolution« beschäftigen (vgl. 111–137), sei besonders auf die beiden Abhandlungen zur theologischen Formierung von Reinhold Seeberg (vgl. 211–263) und Friedrich Gogarten (vgl. 265–328) verwiesen. Seeberg, gemeinhin als Aushängeschild eines nationalgesinnten und kulturkonservativ ausgerichteten Luthertums angesehen, wird von G. in einem eindrücklichen Lebensbild nachgezeichnet, das die ganze Vielschichtigkeit der Person und des Werkes verdeutlicht: maßgeblicher Promotor lutherischer Sozialethik und Ekklesiologie, Doktorvater Dietrich Bonhoeffers, antiliberaler und antisemitischer Intellektueller in den 1920er Jahren. An Gogarten wiederum betont G. entgegen der landläufigen Meinung, die von einem mehrmaligen Bruch – vereinfacht gesagt: vom Dialektischen Theologen über den Deutschen Christen zum vorsichtigen Modernebefürworter – ausgeht, die Kontinuität der thematischen Anliegen und Motive. G. weist den sich durchhaltenden überzogenen Anspruch des Theologen an seine eigene Wissenschaft, nämlich »Leitwissenschaft« (324) zu sein, ebenso nach, wie er konstatiert: »Auch Gogartens Spättheologie ist primär eine Theorie theologischer Bindung moderner Autonomie.« (326) Jüngere Untersuchungen, wie bspw. die kürzlich erschienene Dissertation von Lucius Kratzert (Theologie zwischen Gesellschaft und Kirche. Zur nationalen Prägung von Gesellschaftslehren deutscher und schweizerischer Theologen im 20. Jh., [2013]), haben auf ihre Weise diese These untermauert.
Aufschlussreich sind sodann jene Aufsätze, die in den 1970er Jahren Furore gemacht haben, weil sie sich für eine konsequente Historisierung der Theologie Karl Barths bzw. deren neuzeitliche Kontextualisierung ausgesprochen haben. Neben Falk Wagner war es eben G., dem wir die polemischsten Texte hierzu verdanken. Zwei von ihnen, derjenige zur theologischen Anthropologie Barths (vgl. 381–423) sowie der zur Liberalismuskritik (»»Der Götze wackelt«?«, vgl. 425–446), sind in diesen Band aufgenommen wurden. Die von der Münchner Schule – einer Bezeichnung, die G. übrigens vehement ablehnt (vgl. 97) – inaugurierte Debatte ist heute selbst schon Geschichte und unterliegt der Historisierung. Dennoch kommt in ihr brennglasartig jene konfliktuöse Konstellation zum Vorschein, die unter den Theologieintellektuellen den Weg des deutschen Protestantismus zur Anerkennung der freiheitlichen Demokratie begleiteten. Heidelberg und München stehen dabei nicht zufällig sowohl für unterschiedliche Neujustierungen theologischer Ethik als auch für deren jeweilige theologiegeschichtliche Selbstverortung. Die Verletzungen, die beide Seiten damals einander zugefügt haben, bleiben auch bei G. nicht unerwähnt und werden selbstkritisch zugestanden (vgl. 97 ff.). Aus dem Rückblick wird man jedoch zugestehen müssen, dass für Barth – ähnlich übrigens wie für Tillich (vgl. 83 f.) – das ideologie- und regimekritische Potential ihrer Theologien nicht einfach übertragbar ist auf seine politische Einstellung und Haltung vor 1933; die Jahre danach sind davon zu unterscheiden: »Karl Barth hat einen inneren Zusammenhang zwischen ›Rechtfertigung und Recht‹ erst sieben Jahre nach dem Ende einer rechtsstaatlichen Demokratie in Deutschland entdeckt. Was verlieren wir an der Größe Karl Barth, wenn wir uns darüber nicht länger hinwegtäuschen. Könnte es nicht sein, daß wir Karl Barths theologischer Bedeutung erst dann ansichtig werden, wenn wir ihn – und uns – vor ungeschichtlicher politischer Glorifizierung schützen?« (446)
Man spürt den Seiten dieses Bandes die Reserven ab, die G. gegenüber Theologien mit starken Offenbarungs- und Gehorsamssemantiken hat. Auch kann er seine Sympathien für den liberalen Protestantismus und seine wissenschafts- und aufklärungsfreundliche Theologie nicht verhehlen. Das bedeutet aber im Umkehrschluss nicht, dass er die Ambivalenzen kulturprotestantischer Stimmen in ihrem Verhältnis insbesondere zur rechtsstaatlichen Demokratie übersähe. Im Gegenteil. Der letzte Beitrag des Bandes (vgl. 483–507) beschäftigt sich mit einem weiteren »Kind« der Mo­derne: denn auch das, was wir Antisemitismus nennen, hat eine spezifisch moderne Fassung, zumal, wenn er als Programmformel konzeptionell gebraucht wird. Ein Teil jenes geistigen Nährbodens für die Ereignisse der Folgejahre nach 1933 stellt er allemal dar und war auch unter liberalen Pfarrern und Theologen verbreitet. Weder muss eine konservativ-modernefeindliche Religiosität und Theologie zwangsläufig zu Aversionen gegenüber der liberalen Demokratie führen, noch bedeutet umgekehrt eine liberal-religiöse Einstellung eo ipso die Affirmation von Rechtsstaatlichkeit im heutigen Sinne. »Aufgrund ihres Persönlichkeitsglaubens lehnen alle Kulturprotestanten ein biologistisches Menschenbild und Rassenhaß ab«, aber die oft gleichzeitige »Überhöhung des Staates zum Supersubjekt materialer Wertintegration schwächt von vornherein ihre Fähigkeit, konkrete Menschenrechte gegen den Staat zu verteidigen.« (506)
Die einzelnen Studien stammen allesamt aus den Jahren zwischen 1974 und 2004. Ihnen vorangestellt ist eine den monographischen Umfang von 110 Seiten annehmende Eingangsstudie (»Protestantische Universitätstheologie in der Weimarer Republik, 1–110), die die »theologischen Diskurslandschaften« (12) der Wei­marer Jahre unter acht Leitbegriffen zu bündeln versucht. Diese lauten: »Dialektische Theologie, Generation, Hybride Grenzen, Bildungsbürger unter sich, Rezeption, Ambiguitätstoleranz, Fakultäten und Refle-xive Historisierung« (ebd.). Besonderes Augenmerk gilt dabei dem Generationsaspekt, insofern für G. die theologischen Auseinandersetzungen auch immer Generationenkämpfe widerspiegeln (vgl. jene die gesamte Skizze durchziehende Differenzierung in Wil-helminische Generation, Gründerzeitgeneration, Frontgeneration und Kriegsjugendgeneration [30 ff. u. ö.]) als auch der Ambiguitätstoleranz, was sie negativ an der Schärfe demonstrieren lässt, mit der um Begriffe gerungen wurde und entsprechend viele Neologismen theoriestrategisch gebildet wurden (vgl. 77 ff.).
So entsteht ein Bild davon, wie G. sein Projekt einer theologischen Ideengeschichte verstanden haben möchte: nicht einfach als Nachzeichnung von Lehrpositionen, sondern im Sinne einer »shared history«. Diese achtet auf Überschneidungen und Überkreuzungen verschiedener Intellektuellendiskurse aus unterschied­lichen (konfessionellen und religiösen) Milieus ebenso wie sie auf die Einbettung von Theologie- in die politische und die Sozialgeschichte Wert legt, ohne die relative Eigendynamik religiöser Ideenbildung zu negieren (vgl. 107 f. sowie 99, Anm. 289). Dies hätte eigentlich, wie G. selbstkritisch einräumt, eine viel stärkere Beachtung der jüdischen und katholischen Debatten und Diskurse erforderlich gemacht. Ungeachtet dessen kommt es in der Theologiegeschichtsforschung nach G. darauf an, sich immer sensibler an das methodische Gebot der reflexiven Historisierung zu halten. D. h. ernst zu machen mit der Einsicht, wonach alles – auch noch die eigene Position – geschichtlich verstanden werden kann und muss. So leben wir nach der Überzeugung G.s nach wie vor im Zeitalter einer »historistischen Dauerrevolution« (ebd.). Ernst Troeltsch hätte dem nicht widersprochen.
Überhaupt Troeltsch und sein »Fachmenschenfreund« Max We­ber: Studien zu ihrem Werk fehlen mit einer Ausnahme (vgl. 139–160) in diesem Buch. Allerdings ist schon seit geraumer Zeit ein weiterer Band aus der Feder G.s angekündigt, der die Aufsätze zu diesen beiden »kulturprotestantischen Meisterdenkern« versammeln soll. So bleibt uns bis zum hoffentlich zeitnahen Erscheinen nur, uns noch intensiver mit jenen Geistern der Zeit auseinanderzusetzen, denen G.s Forschungsinteresse bis auf den heutigen Tag gilt. Sein (selbst-)reflexiver Umgang mit ihren Werken kann uns dabei helfen, nicht vorschnell zu Witwern oder gar zu Waisen zu werden – um es in einem gängigen Bonmot zu formulieren –, sondern uns in das einzuüben, was man wohl als kritischen Umgang mit einer Erbschaft bezeichnen könnte.