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Ausgabe:

Mai/2014

Spalte:

595-597

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Cordemann, Claas

Titel/Untertitel:

Herders christlicher Monismus. Eine Studie zur Grundlegung von Johann Gottfried Herders Christologie und Humanitätsideal.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2010. XII, 310 S. = Beiträge zur historischen Theologie, 154. Lw. EUR 84,00. ISBN 978-3-16-150408-2.

Rezensent:

Christoph Bultmann

Sobald Herder die Bezeichnung elohim in Gen 1 im Sinne von »wirkenden Kräften« gedeutet hatte, konnte er diese »Kräfte« in der Schöpfung generell und besonders im Menschen wirksam sehen und mit der Vorstellung eines gerichteten, asymptotischen Entwicklungs- und Bildungsprozesses hin zum Ziel der Humanität verbinden. In seiner im Gespräch mit C. Axt-Piscalar und J. Ringleben entstandenen Göttinger systematisch-theologischen Dissertation von 2009 geht Claas Cordemann Herders Deutungsmodell für Schöpfung, Sprache, Humanität, Theodizee und Christologie nach und stellt mit beeindruckender Kenntnis und Sorgfalt die wesentlichen Theorieelemente und deren strukturierte Synthese bei Herder vor. Einen besonderen Wert erhält die Studie dadurch, dass C. ausführlich auf Herders Spinozalektüre eingeht, um das Konzept einer »Geistmetaphysik« herauszuarbeiten, durch das der Gedanke einer »Einheit von Natur und Kultur« (171) seine spezifische Prägung erhalte.
C. stellt sich der Herausforderung, den oft abgewerteten Begriff der »Humanität« bei Herder ernst zu nehmen und in seiner durch den Autor intendierten Begriffslogik zu erfassen. Dafür stehen im Wesentlichen Kapitel 1 (bzw. 1.3) »Humanität als Gabe und Aufgabe« (18–66), Kapitel 3 »Humanität und Religion« (159–202) und Kapitel 4 »Humanität und Christologie« (203–256). Darüber hinaus ist Kapitel 2 ein umfassender Versuch einer Explikation der »metaphysischen Fundierung« von Herders geschichtsphilosophischen Reflexionen über Natur- und Kulturprozesse, die C. in Herders Buch Gott. Einige Gespräche von 1787, 2. Aufl. 1800, zu greifen sucht (67–158). Werkgeschichtlich betrachtet müsse Herders Studie zu Spinoza als Klärung der »impliziten Theoriedimension« der Ausführungen über eine »älteste Urkunde« als der biblischen Grundgestalt von Offenbarung – d. h. in dem Buch Älteste Urkunde des Menschengeschlechts (Bd. 1, 1774) – gelten (191). Mit »Humanität« geht es bei Herder um eine »teleologisch qualifizierte Bestimmung« (160), dabei kann diese Humanität schon »durch die Zeiten und Kulturen« in einer fortschreitenden Bewegung erfasst werden (162). Neben kultureller Dynamik steht auch die »Individuation« des Menschen: »Humanität als Aufgabe des Menschen wie der Menschheit beinhaltet einen umfassenden Selbstbildungsauftrag.« (164) Herders Formel von »Religion« als der »höchsten Hu-manität« des Menschen (Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Teil I, 1784, Buch 4, Kapitel 6) wird von C. in eine Diskussion von Herders Version kritischer Religionsphilosophie hineingezogen (159–202, besonders 176.183), wo sie ihren angemessenen kontextuellen Ort findet; demgegenüber ist ihre Anführung in einem Kontext, in dem C. dann doch »bloße Humanität« mit einer von der Christologie her bestimmten Humanität kontrastiert, eine Verlegenheit (255 f.).
Mit seinen Untersuchungen zum metaphysischen, von Spinoza ausgehenden, und religionsgeschichtlichen, von Gen 1 als Offenbarung in der Schöpfung ausgehenden Unterbau von Herders Rede von »Humanität« erreicht C. einen hohen Grad von Systematisierung einzelner Theorieelemente bei Herder. Wie alle »-ismus-Be­griffe« in Untersuchungen zu Herder mag auch der Begriff »Monismus« irritieren. Doch C. bietet eine relativ klare Begriffsbestimmung mit Bezug auf seine Darlegungen zur »Geistmetaphysik« nach Spinoza an. Zwar sollen Natur und Kultur je als »Ausdruck« des göttlichen Geistes begriffen werden, doch erlaube solcher »Monismus« bei Herder dennoch, »Selbsttätigkeit unter endlichen Bedingungen« zu denken (171). So urteilt C.: »Darin liegt m. E. das Spezifikum der umdeutenden Spinozainterpretation Herders: Gott verwirklicht sich nicht unmittelbar, sondern nur vermittelt durch die Selbsttätigkeit des Menschen. In der Spannung von providentia und cooperatio formuliert Herder einen christlich transformierten Monismus.« (169)
Eine Wendung bei Herder selbst und so auch in C.s nachvollziehender Herderinterpretation stellt die Einzeichnung von Christus als logos und monogenēs nach Joh 1 in die Konzeption einer durch »wirkende«, auf Humanität weisende »Kräfte« bestimmten Schöpfung dar (dazu besonders 248–266). Was bei Herder die Geschichtsphilosophie als theologische Dimension geöffnet hatte, wird durch den Exklusivismus wieder geschlossen (vgl. 262 f.). Was von Spinoza her als »Geistmetaphysik« zu beschreiben war, wird über eine »Logoschristologie« auf einen neuen »Konstitutionsgrund« (250) bezogen. Zwar geht Herder mit dem Begriff der Sünde sehr reserviert um, doch greift er nur wenig modifizierend auf die klassische, an Gen 3,15 angeknüpfte Lehrtradition zurück, wenn er schreibt, Christus sei das »Organ« der »Gottheit« »zur Belebung des Menschengeschlechts zu der ihm angestammten Gottähnlichen Würde« (zitiert bei C., 251). Ob die Defizite der Menschen, die Gottes Schöpfung beim Sonnenaufgang betrachten ( Älteste Urkunde), nun darin liegen, dass sie »erst vollends« oder dass sie »nur« durch Christus ihre Bestimmung zur Humanität erkennen können sollen, sei dahingestellt (251 f.); deutlich ist, dass Herder durch seine religionstheoretische Vereinnahmung des Gedankens der natürlichen Religion für sein Konzept der natürlichen als einer auf einer biblischen Ur-Tatsache beruhenden positiven Religion im Blick auf das Neue Testament zu Konsequenzen getrieben wird, die einer Aufhebung seiner »anthropologischen, kulturtheoretischen und geschichtsphilosophischen Überlegungen« (vgl. 248) gleichkommen. C. macht diese Spannung nicht eigentlich zu einem Thema, weil er ja darauf abzielt, die Grundlegung von Herders Christologie herauszuarbeiten, doch meldet sie sich in seiner Darstellung un­übersehbar. Vonseiten der Konstellationsforschung könnte man zur Erklärung wohl darauf verweisen, dass Herders Schriften der 1770er Jahre in einem Diskurszusammenhang mit Autoren und Lesern extra muros gestanden hätten, während seine Schriften der 1790er Jahre – trotz der Polemik gegen Kant – einem Diskurs intra muros verpflichtet seien (C. spricht indessen von Herders »religiös interessiertem Publikum«, 257). Doch der systematisch-theologische Ertrag einer solchen Erklärung wäre gering, und interessanter bleibt es, das von C. allzu positiv gesehene Umspringen der Theorie über den »Konstitutionsgrund« als religionsphilosophisches und theologisches Problem festzuhalten.
Insgesamt ist C. eine glanzvolle Studie zu einem Theologen gelungen, der sich nicht in orthodoxer evangelischer Tradition am Gegensatz zwischen den Auserwählten (electi) und den Übrigen (caeteri) festhielt, um die Partikularität einer Kirche oder Sekte in Selbstauslegungen zu behaupten, sondern der – zumindest zeitweilig – die Geschichtsphilosophie als Mittel zur Rückgewinnung einer Schöpfungstheologie verstand, in der die Schöpfung im Hinblick auf eine ihr eingeschriebene, verstehbare Bestimmung des Menschen zur Humanität hin gedeutet wird. Ein gewisser Systemzwang metaphysischer Theoriebildung macht sich bemerkbar, wenn C. im abschließenden »Rückblick und Ausblick« nach Herders Buch Von Religion, Lehrmeinungen und Gebräuchen von 1798 die Auslegung der Sätze zu Christus im Credo nur in Richtung der Logoschristologie, nicht aber des Liebesgebots (II.II.6) aufgreift (257–270). Ob bei kritischer Prüfung Herders in der Regel in einem appellativen Duktus vorgetragene Setzungen (»wenn durch ein Faktum gezeigt wird«, vgl. 192) überzeugen können, wird im An­schluss an C.s – auch durch ein reiches Sachregister erschlossene – Studie weiter zu diskutieren sein.