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Ausgabe:

Mai/2014

Spalte:

583-585

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Watt, Jan G. van der, u. Ruben Zimmermann [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Rethink-ing the Ethics of John. »Implicit Ethics« in the Johannine Writings. Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik/ Contexts and Norms of New Testament Ethics. Vol. III.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2012. XI, 395 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 291. Lw. EUR 114,00. ISBN 978-3-16-151830-0.

Rezensent:

Anni Hentschel

Die umfangreiche Aufsatzsammlung zur johanneischen Ethik ist das Ergebnis einer von den Herausgebern gemeinsam organisierten Tagung an der Radboud Universität von Nijmegen (Niederlande) im Jahr 2010 und steht im Kontext ihres Forschungsinteresses an den Begründungszusammenhängen frühchristlicher Ethik. Der Band wendet sich mit einer Vielfalt neuer methodischer Zugänge und Fragestellungen der kontrovers diskutierten Frage nach einer johanneischen Ethik zu. Angesichts der vor allem im Jo­hannesevan gelium fehlenden expliziten ethischen Reflexion wird nach der »impliziten Ethik« der johanneischen Schriften gefragt. Ob allerdings das im Vorwort formulierte Interesse an Verhaltensnormen und die damit verbundene Konzentration auf die Begründung menschlichen Handelns ein ausreichend differenziertes Ethikverständnis bieten (vgl. dazu J. Fischer, Die religiöse Dimension der Moral als Thema der Ethik, ThLZ 138 [2012], 384–406), um einer Erzählung wie dem JohEv gerecht zu werden, bleibt fraglich. Schließlich überliefert gerade das JohEv mit Ausnahme des Liebesgebots keine explizit formulierten Verhaltensnormen, wie insbesondere der Beitrag von G. Lund kritisch anmerkt und ethisch reflektiert. Die einzelnen Beiträge arbeiten mit unterschiedlichen Ethikdefinitionen, die von der verbreiteten Frage nach Normen und Werten bis hin zur Betrachtung des Zusammenhangs von Identität und Verhalten unter Berücksichtigung von Forschungsergebnissen zum kollektiven Gedächtnis (G. Lund; T. Thatcher) reichen. Bezüglich der Einleitungsfragen zu den johanneischen Schriften zeigt sich in den einzelnen Beiträgen die aktuelle Forschungssituation: In einem Großteil der Aufsätze wird das JohEv als einheitliches Werk betrachtet, doch auch ein literarkritisch begründetes Schichtenmodell und die Darstellung ethischer Probleme im Hinblick auf die rekonstruierten Phasen der Geschichte der joh Gemeinde finden sich in dem Band (P. N. Anderson). Ein einführender Überblick über die einzelnen Beiträge oder deren resümierende Würdigung wären deshalb durchaus hilfreich gewesen.
Der Aufsatzband gliedert sich in vier Abschnitte mit 1. zwei forschungsgeschichtlichen Artikeln, 2. drei Aufsätzen zum religionsgeschichtlichen Kontext, 3. neun Beiträgen zur Ethik im JohEv und 4. drei Aufsätzen zur Ethik im ersten Johannesbrief. Außerdem finden sich im Anhang ein Stellenregister und ein Autorenregister.
1) Unter dem Titel »›It’s Only Love‹ – Is That All?« gibt M. Labahn einen problem- und methodenorientierten Überblick über die neuere Forschung zur johanneischen Ethik und problematisiert u. a. den Ethikbegriff im Hinblick auf neutestamentliche Texte sowie die klassischen Argumente, die gegen eine johanneische Ethik angeführt werden. R. Zimmermann fragt »Is There Ethics in the Gospel of John?« auf dem Hintergrund verschiedener, auch antiker Ethikbegriffe und kommt u. a. zu dem Ergebnis, dass Johannes den Lesenden ermöglicht, ewiges Leben zu finden und darin auch Orientierung für das alltägliche Leben.
2) A. T. Glicksman befasst sich mit weisheitlichen Vorstellungen unter dem Titel »Beyond Sophia: The Sapiential Portrayal of Jesus in the Fourth Gospel and Its Ethical Implications for the Johannine Community« und zeigt interessante Gemeinsamkeiten und Unterschiede zur jüdischen Weisheitstradition auf. In dem traditionsgeschichtlich ausgerichteten Beitrag von E. Eynikel geht es um »The Qumran Background of Johannine Ethics«. Er beleuchtet vor allem das dualistische Wirklichkeitsverständnis im JohEv und dessen Auswirkungen auf »the right time to act«. »Johannine Perspectives on Ethical Enabling in the Context of Stoic and Philonic Ethics« zeigt V. Rabens auf, wobei er besonders die Befähigung zu ethischem Handeln berücksichtigt. Die Erfahrung des Geliebtwerdens in von Liebe geprägten Beziehungen, besonders die damit verbundenen Emotionen, befähigten die Jünger Jesu, selbst zu lieben, und damit zu dem Gehorsam, der von ihnen erwartet wird.
3) W. R. G. Loader geht dem Verhältnis von »The Law und Ethics in John’s Gospel« nach und betont, dass die Tora gemäß Johannes vor allem auf Christus verweise und mit dessen Erscheinen ihr Ziel erreicht habe, so dass sich die Glaubenden nun an Christus orientieren sollen. Dennoch prägten die Wertvorstellungen der Tora nach wie vor die Identität der johanneischen Gemeinde, auch wenn nun Christus die verbindliche Norm darstelle, in der sich Gottes Wille offenbare. K. Weyer-Menkhoff fragt nach »The Response of Jesus. Ethics in John by Considering Scripture as Work of God«. Er unterscheidet zwischen autonomen und reagierenden Handlungen (»responsive actions«) und kommt zu dem Ergebnis, dass Johannes nicht bestimmte inhaltlich qualifizierte Handlungen vorschreibe, sondern die Art und Weise der Handlungen als solche, die als Reaktionen auf Gottes Werke zu bestimmen seien. J. G. van der Watt fragt nach »Ethics of/and the Opponents of Jesus in John’s Gospel« und analysiert die Darstellung der Gegner Jesu bezüglich der Ethik. Zwar würdigen alle Charaktere die Tora positiv, doch gemäß JohEv werde die Tora erst dann richtig verstanden, wenn man sie von Christus her interpretiert. C. Karakolis befasst sich mit »Semeia Conveying Ethics in the Gospel according to John«. Er untersucht die griechischen Begriffe semeion und ergon und sieht in den sieben Semeia-Erzählungen konkrete Beispiele für Jesu fürsorgende Liebe zu den Menschen. M. Stare betrachtet die »Ethics of Life in the Gospel of John« auf dem Hintergrund einer Basileia-Ethik der Synoptiker und betont die egalitären und universalen Aspekte der johanneischen Ethik. H. Löhr befasst sich mit »Ἐργον as an Element of Moral Language in John«. Er unterscheidet den johanneischen Sprachgebrauch von der paulinischen Formulierung »Werke des Gesetzes« und kommt zu interessanten Beobachtungen bezüglich der komplexen johanneischen Wortverwendung und den Beziehungen zwischen göttlichem und menschlichen Handeln. C. C. Caragounis, »›Abide in Me‹. The New Mode of Relationship between Jesus ans His Followers as a Basis for a Christian Ethics (John 15)« erläutert die Auswirkungen auf das Verständnis von Joh 15, wenn man im Einklang mit der möglichen zeitgenössischen Wortverwendung Jesus nicht als Weinstock, sondern als Weinberg versteht. G. Lund denkt über »The Joys and Dangers of Ethics in John’s Gospel« nach. Sie diskutiert forschungsgeschichtliche, hermeneutische und ethisch-theologische Aspekte einer johanneischen Ethik, die kreativ und weiterführend sind. Sie bedenkt dabei insbesondere, dass die johanneische Ethik nicht auf fixierten Normen basiert, sondern vor allem auf »relational unity and communal values«. Unter dem Titel »Discernment-Oriented Leadership in the Johannine Situation« analysiert P. N. Anderson das Handeln der Leitenden im Verhältnis zu der von ihm zugrunde gelegten Geschichte der johanneischen Gemeinde und den darin auftretenden Konflikten, die aufgrund von Urteilsvermögen bewältigt werden können.
4) Unter dem Titel »Ethical Theology in 1John« bietet U. Schnelle einen informativen Einblick in theologisch-ethische Diskurse des 1Joh: Die durch Jesus Christus vermittelte Gotteserkenntnis impliziere den Anspruch, dass die Glaubenden in Liebe und Wahrheit leben und handeln. Die Betonung der Gemeinschaft im 1Joh als Reaktion auf die zugrundeliegende Konfliktsituation berücksichtigt in besonderer Weise J. E. Brickle in »Transacting Virtue within a Disrupted Community«. Am Beispiel der Aufnahme der Tradition von Kain und Abel in johanneischen Texten zeigt T. Thatcher in »Cain the Jew the AntiChrist« die Bedeutung der kulturwissenschaftlichen Theorien eines Kollektiven bzw. Kulturellen Gedächtnisses im Anschluss an M. Halbwachs und J. Assmann für die Ethik auf: Eine bestimmte Lesart von Gen 4 diene der johanneischen Gemeinde als Erzählung, mit deren Hilfe gegenwärtige Konflikte erklärt und bewältigt werden können, die aus der Verfolgung der christlichen Gemeinde durch ihre jüdischen Volksgenossen resultieren.
Die Aufsätze in ihrer Vielfalt und Divergenz zeigen, dass sowohl das JohEv als Erzählung als auch die in den johanneischen Schriften überlieferten Normen deutungsbedürftig und mehrdeutig sind, so dass sich die grundlegende Frage stellt, ob bzw. inwiefern ein an Normen orientiertes Ethikverständnis einem Evangelium gerecht werden kann. Wie mit den interessanten Perspektiven und Beobachtungen dieses Sammelbandes hermeneutisch umzugehen ist und was diese Ergebnisse für ein Verständnis einer Ethik des JohEv bedeuten, bleibt eine weiter zu diskutierende Fragestellung.