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Ausgabe:

Mai/2014

Spalte:

576-579

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Frey, Jörg

Titel/Untertitel:

Die Herrlichkeit des Gekreuzigten. Studien zu den Johanneischen Schriften I. Hrsg. v. J. Schlegel.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2013. IX, 886 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 307. Lw. EUR 159,00. ISBN 978-3-16-150782-3.

Rezensent:

Klaus Scholtissek

Der umfangreiche Sammelband des Züricher Neutestamentlers Jörg Frey mit 18 Studien zum Johannesevangelium (aus den letzten 15 Jahren) verdient hohe Aufmerksamkeit: Nach den drei dichten Bänden zur johanneischen Eschatologie (WUNT 96.110.116; vgl. hierzu in diesem Band 663–698) legt er hiermit den ersten Band seiner gesammelten Johannesstudien vor, die seine Kommentierung des JohEv in der Kommentarreihe EKK begleiten und absichern werden.
1) Die einzelnen Studien sind gerahmt durch einleitende, eröffnende und die angestrebte Reichweite abschreitende Prolegomena und eine abschließende mutige These zur Theologie des JohEv im Gesamt der neutestamentlichen Theologie:
Der einleitende Beitrag »Wege und Perspektiven der Interpretation des Johannesevangeliums. Überlegungen auf dem Weg zu einem Kommentar« (3–41) warnt vor »vier ›Torhütern‹, die einen angemessenen Zugang verstellen« (32): den Ansätzen bei der Verfasserfrage, bei der Literarkritik, einer religionsgeschichtlichen bzw. religionspolitischen Vorentscheidung, bei einer einengenden Texttheorie. Positiv zielt F. auf die ideologiefreie Verbindung von literarischen, historischen bzw. zeitgeschichtlichen und theologischen Aussagen: »Es ist vielmehr damit zu rechnen, daß das Johannesevangelium auch eine eigenständige und kreative theologische Leistung darstellt, eine innovative Reflexion über den Weg Jesu von Nazareth, und daß es darin seinen Leserinnen und Lesern in der Sache neu zu denken geben will« (39).
2) Die folgenden vier Beiträge widmen sich den ›klassischen‹ religions- und traditionsgeschichtlichen Fragen, die die Johannesforschung zeitweise dominiert haben: Sind Einflüsse der christlichen Gnosis, des alexandrinischen Hellenismus, von Philo, des gnostischen Erlösermythos, des palästinensischen Judentums, aus Qumran oder Nag Hammadi prägend? Aufgrund der heute vorliegenden, erheblich erschlosseneren und damit genaueren Quellenbasis zu den religionsgeschichtlichen Vergleichstexten und ihrer Entstehungszeit (vgl. nur die Umwälzungen in der Qumranforschung) und aufgrund weiterer methodisch gebotener Differen-zierungen zum sogenannten religionsgeschichtlichen Vergleich kann es nicht mehr darum gehen, einfache, genealogische Einflüsse nachzuweisen oder zu bestreiten, sondern darum, » Analogien zu betrachten und nicht vorschnell genealogisch auszuwerten« (77). Dies gilt insbesondere auch für die Versuche, Texte aus Qumran, die – anders als der Substanzdualismus der Gnosis – einen biblisch beeinflussten ethischen Dualismus vertreten, für die Auslegung des JohEv heranzuziehen. Nicht Texte aus Qumran, sondern der »von der biblischen Tradition geprägte, jüdisch-palästinensische Hintergrund« (163) ist für das JohEv insgesamt maßgeblich. Der johanneische Dualismus unterscheidet sich erheblich von dem in sich mehrschichtigen dualistischen Denken der Texte aus Qumran: Die dualistischen »Sprach- und Denkformen im Corpus Johanneum« (vgl. 202–237). Dualistische Sprachelemente sind bei Johannes als Funktion der Christologie, nicht aber der Eschatologie zu verstehen (vgl. 205.437–482). Auch eine vermeintliche Prädestina­tionslehre im JohEv lässt sich nicht aus Qumran ableiten, sie findet sich nicht im JohEv (vgl. 230 f.460–467.480).
Die religionsgeschichtlichen Fragestellungen dürfen den traditionsgeschichtlichen Blick für den innerchristlichen Standort des Johannesevangeliums (die Einleitungsfragen u. a. das Verhältnis des JohEv zu den Synoptikern) nicht aus dem Auge verlieren. F. plädiert – da andere, nichtsynoptische Quellenschriften (u. a. Se­meiaquelle) jegliche Evidenz verloren haben (255–257) – für die johanneische Kenntnis des MkEv und des LKEv (84 f.239–294.812). Dabei ist mit einer »Transformation der Wortüberlieferung«, für die sich der Evangelist auf das Parakletwirken beruft, zu rechnen: »Die johanneische Darstellung läßt sich nur angemessen bewerten, wenn man das von ihr selbst genannte Erkenntnismedium theologisch ernst nimmt – die aufgrund der österlichen Geisterfahrung erfolgte Anamnesis des Christusgeschehens im Horizont der Schrift« (293 f; vgl. u. a. 625–632.660–662.815.831 ff.).
Am Beispiel der christologisch interessierten Schriftrezeption von Num 21 in Joh 3,14 f. – der Evangelist rekurriert auf den griechischen und den hebräischen Text – zeigt F. die »Schulung [scil. des Evangelisten] in palästinensisch-jüdischer Schriftbehandlung, was freilich umgekehrt die Bekanntschaft mit der hellenistisch-jüdischen Auslegung etwa im Weisheitsbuch nicht ausschließt« (143). Insgesamt setzt der Evangelist »für seine intendierten Leser, die diese Anspielungen ja verstehen sollten, eine bemerkenswerte Kenntnis der Schriften und Traditionen des Alten Testamentes wie auch zahlreicher Elemente der Evangelientradition als bekannt voraus« (144).
3) Unter der Überschrift »Zu Adressaten und Situation« widmet sich der erste Beitrag den »Heiden« bzw. »Griechen« als »Chiffre für die kleinasiatischen Adressaten des Evangeliums selbst«: »In den ›Griechen‹, die den Irdischen nicht mehr zu Gesicht bekommen, aber dann zum Erhöhten hin ›gezogen‹ werden, mußten die kleinasiatischen Hörer des johanneischen Schule, die Adressaten des Evangeliums sich selbst und ihren ›ekklesiologischen Standort‹ erkennen.« (338) Spiegelbildlich dazu diskutiert F. im folgenden Beitrag die Rolle der pauschalen Bezeichnung »die Juden« im JohEv und kommt zu dem Ergebnis, dass die Entstehungssituation des JohEv nach der Trennung von der Synagoge in der kleinasiatischen Diaspora des Judentums im politischen Kontext des späten 1. Jh.s anzusiedeln ist (365–372). F. skizziert hiermit auch seine Antwort auf die Frage nach dem Sitz im Leben des JohEv.
4) Die rezeptionsästhetische Studie zur Funktion der Brotmetapher (381–407) erläutert exemplarisch für die Bildsprache des vierten Evangelisten das Wirkungspotential der biblisch-johanneischen Metaphorik: F. zeigt auf, wie die verschiedenen Sinnebenen der Brotrede (Brot als Nahrungsmittel, als Symbol des Lebens, als personale Metapher, als eucharistische Gabe) in der Komposition von Joh 6 aufgenommen, anverwandelt und erschlossen werden – eine literarkritische Abtrennung von 6,51c–58 ist auch deshalb nicht sachgemäß; vgl. 394.403 f.). An diesem Beispiel wird überzeugend nachvollziehbar, dass die kaum mehr zu überschauende Vielzahl (mitunter auch die Exzesse) literarkritischer Operationen im Johannesevangelium ihre Überzeugungskraft verloren haben: F. widmet sich in diesem Sammelband nicht ausdrücklich der Literarkritik in der Forschungsgeschichte zum JohEv – dies hatte er bereits in seinen oben genannten drei Bänden zur johanneischen Eschatologie ausführlich getan. Das Ergebnis seiner minutiösen Textstudien ist, dass die von literarkritischen Interessen betriebene Entgegensetzung von präsentischer und futurischer Eschatologie im Sinne der Eschatologie im JohEv gegenstandslos ist. Dieses überzeugende Ergebnis lässt sich mutatis mutandis – aus Sicht des Rezensenten – auch auf andere vermeintlich gegensätzliche Theologien übertragen. Die anschließende Studie zu »Hintergrund und Funktion des johanneischen Dualismus« (409–482) vertieft und begründet die oben genannten Ausführungen zum johanneischen Dualismus.
5) Unter den neun Beiträgen zur johanneischen Theologie ragen die vier Beiträge, die sich direkt oder indirekt mit der johanneischen Kreuzestheologie beschäftigen, und hier der programmatische Beitrag: »Die ›theologia crucifixi‹ des Johannesevangeliums« (485–554), heraus: F. greift die hochkontroverse Frage auf, ob das JohEv überhaupt eine Theologie des Todes bzw. des Kreuzes kenne und ob er ihr einen zentralen Ort innerhalb seines Evangeliums und seiner Theologie zuweise. Zugespitzt formuliert: Gibt es eine soteriologische Bedeutung des Kreuzestodes Jesu im JohEv oder nicht? In mehreren Anläufen und unter Berücksichtigung des Gesamtzeugnisses des JohEv weist F. überzeugend auf, dass und wie der vierte Evangelist eine theologia crucis sua generis vertritt. Dabei tritt insbesondere die im JohEv durchgehaltende Betonung der bleibenden personalen Identität von irdischem, gekreuzigten und erhöhten Christus in den Blick. Gerade am Beispiel der Kreuzestheologie lässt sich die Zuordnung von Heil und Geschichte im JohEv heilsgeschichtlich buchstabieren.
»In der Menschwerdung des Gottessohnes und – klimaktisch – in seinem Kreuzestod zeigt sich die Korrespondenz des dem Menschen heilvoll begegnenden Gottes, ja seine bleibende Verbindung mit der irdischen Geschichte und der menschlichen Natur in unüberbietbarer Weise, so daß Gott selbst und sein Heil nicht mehr in Absehung von der menschlichen Geschichte, von menschlichem Leid und menschlichem Tod zu denken sind« (636 f.; vgl. 655 f.). Diese Linie betont auch der Beitrag »Leiblichkeit und Auferstehung im Johannesevangelium« (699–738).
6) In zwei Beiträgen setzt F. sich mit ethischen Fragestellun-gen zum Corpus Johanneum auseinander: »Love Relations in the Fourth Gospel« (739–765) und »›Ethical‹ Traditions, Familiy Ethos, and Love in the Johannine Literature« (767–802). Die johanneische Ethik wurde lange Zeit vernachlässigt bzw. als kaum entwickelt geringgeschätzt. Hier hat in der jüngeren Forschung – und eben auch in den Beiträgen von F. – ein begrüßenswertes Umdenken eingesetzt.
7) Der abschließende Beitrag, die Münchener Abschiedsvorlesung F.s aus dem Jahre 2010, stellt ausweislich des Titels: »Die johanneische Theologie als Klimax der neutestamentlichen Theologie« (803–833) eine provozierende These auf. Ausgehend von der »synthetischen und zugleich bleibend dialektischen ›hohen‹ Christologie« (816) des Evangelisten, sowie seiner Theo-logie (»Die geschichtliche Bestimmtheit Gottes und die Prädikation seines Wesens als ›Liebe‹«; 822) und Pneumatologie (»Der Geist als personale Größe und die Ansätze eines prototrinitarischen Denkens«; 826) entwickelt er die überzeugende These: »Nicht nur die Worte Jesu – und erst recht nicht die Rekonstruktion des ›Historischen Jesus‹ – besitzen Autorität, sondern auch der weitere Weg der theologischen Einsichten, der ›erinnernden‹ Deutung von der frühen Urgemeinde bis zum Abschluss des neutestamentlichen Kanons – oder sogar darüber hinaus – kann als theologisch legitim gelten, nicht nur die palästinische Glaubens- und Denkweise der Urgemeinde, sondern auch die Weiterdeutung in der hellenistischen Diaspora, nicht nur die Evangelien, sondern auch die Theologie des Paulus und weiterer Zeugen« (832). So sehr dieser Deutung zuzustimmen ist, die These des letzten Satzes des Sammelbandes, dass das JohEv »der Höhepunkt und die ›Klimax‹ der neutestamentlichen Theologie« (33) sei, bedarf doch noch einer Gegenkontrolle bzw. Ergänzung durch den Kanon neutestamentlicher Theologien insgesamt und die paulinische Theologie im Besonderen.
Es gibt mehrere Gründe, die es rechtfertigen, in den Johannesstudien von F. Dokumente eine eigenständige Synthese der neueren Johannesforschung sowie eine richtungsweisende Wende in der Johannesforschung und eine Grundlegung der Johannesforschung des 21. Jh.s zu erkennen. Diese Epochenwende ist von vielen Exegeten und Exegetinnen vorbereitet worden und wird von ihnen mitgestaltet.
Es gibt keinen Exegeten, der die Forschungsgeschichte zum Vierten Evangelium der letzten Jahrhunderte und insbesondere des 20. Jh.s in dieser umfassenden und nahezu erschöpfenden Weise berücksichtigt und überblickt. Die verschiedenen Positionen der Forschungsgeschichte werden bei F. auf ihre Grundmuster und treibenden Ideen, ihre berechtigten Anliegen (particula veri) und ihre Irrwege hin analysiert bzw. de-konstruiert.
Die gesamte Breite der methodischen, religionsgeschichtlichen sowie theologischen bzw. theologiegeschichtlichen Ansätze der Forschungsgeschichte wird abgeschritten und einer kritischen Relektüre unterzogen. Ein erheblicher Teil der Forschungsposi­tionen, die die Auslegung des Vierten Evangeliums im 20. Jh. geprägt haben, werden als nicht mehr haltbar und damit als Eis-egese statt als Ex-egese widerlegt. Dazu gehört – bei allem Respekt– in großen Teilen die Johannesauslegung von Rudolf Bultmann. In der fairen und an den johanneischen Texten orientierten Auseinandersetzung mit unterschiedlichen, teilweise antagonistischen Po-sitionen entstehen ab­gewogene, mitunter neue Forschungsposi-tionen, die starke ar­gumentative Überzeugungskraft entwickeln. F. stellt historisch-kritische Exegese und den theologischen An­spruch des JohEv nicht gegeneinander, sondern erhebt den theologischen Anspruch des JohEv ohne moderne Verkürzungen aus der akribischen Arbeit an den Texten selbst (vgl. 38 f.41.293 f.803 f.). Mit seinen Studien, die exegetisches Arbeiten heute selbstkritisch schulen, leistet er der gesamten wissenschaftlichen Exegese insgesamt einen kaum zu überschätzenden Dienst.