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Ausgabe:

März/2014

Spalte:

315–317

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Krech, Volkhard

Titel/Untertitel:

Wo bleibt die Religion? Zur Ambivalenz des Religiösen in der modernen Gesellschaft.

Verlag:

Bielefeld: transcript Verlag 2011. 293 S. m. Abb. u Tab. = transcript Sozialtheorie. Kart. EUR 28,80. ISBN 978-3-8376-1850-1.

Rezensent:

Wilhelm Gräb

Das Buch von Volkhard Krech präsentiert die um weitere Studien ergänzte soziologische Habilitationsschrift des heutigen Religionswissenschaftlers an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum. Die Habilitation war im Jahr 2001 er­folgt. Es gehen die zu diesem Zweck der Bielefelder soziologischen Fakultät eingereichten, aber auch die weiteren, die jetzige Publikation anreichernden Texte auf das Ende der 1990er Jahre zurück. Wie K. in seinem Vorwort selbst zugibt, macht sich dies in all den Par tien des Buches nachteilig bemerkbar, wo es auf religions- und kirchengeschichtliche Entwicklungen nicht nur eingeht, sondern diese eigenen empirischen Untersuchungen zugäng­lich gemacht hat. Sowohl die 4. EKD-Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung von 2006 sowie vor allem der Bertelsmann Religionsmonitor von 2008 haben diesbezüglich nicht nur neue Daten geliefert, sondern vor allem auch neue Instrumentarien zur Identifikation von Religion in der Gegenwartsgesellschaft aufgebaut und zur Anwendung ge­bracht.
Der Schwerpunkt und das wesentliche Interesse K.s liegen jedoch nicht auf den empirischen Untersuchungen zur Kirchenmitgliedschaft oder den Organisationsproblemen der institutionalisierten Religion. Das Buch enthält zwar einige Fallstudien, in die auch empirische Untersuchungen eingegangen sind. So geht es auf Fragen der Konversionsforschung ein (50–72), auf Probleme der Kirche als Organisation (79–105), des Entstehens neuer religiöser Bewegungen und Gruppierungen (106–114), auf »Messung von Sä­kularisierung« (121–124), auf die Phänomene der Individualisierung und Pluralisierung von Religion (132–145). Im Grund dienen jedoch alle diese Bezugnahmen auf Empirie wie dann auch die Fallstudien zu »Religion und Kultur« (151–162) zur Individuen-Religion (163–185), zur politischen Religion (186–220) und zur Kunstreligion (221–241) insbesondere der Absicht, eines der entscheidenden Probleme der Religionsforschung zu bearbeiten. K. beansprucht nämlich einen Begriff der Religion zu gewinnen, der einerseits weit genug ist, die gesellschaftlichen Transformationen der Religion beschreibbar zu machen, der es andererseits aber immer noch erlaubt, Religion von Nicht-Religion bzw. Ersatzreligion differenzieren und damit in ihrem gesellschaftlichen Vorkommen unterscheidungsstark identifizieren zu können.
Mehrfach setzt K. an, um diesen ebenso allgemeinen wie differenztheoretischen Begriff der Religion zu bestimmen. Zunächst geht er die prominentesten »Paradigmen religionssoziologischer Theoriebildung« durch (25–44), um zu zeigen, dass sie letztlich alle, wenn auch mit unterschiedlicher Ausdrücklichkeit, die Religion als kommunikative Bearbeitung eines spezifischen gesellschaftlichen Bezugsproblems auffassen. Religion thematisiert Kontingenzerfahrungen, indem sie die Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz auf sie anwendet. Sie macht das Unbestimmte, das der Gesellschaft im Ganzen letztlich innewohnt, dadurch be­stimmbar, dass sie das letztlich Unbestimmte und im Ganzen Unverfügbare in seiner Unbestimmbarkeit und Unverfügbarkeit zu verstehen versucht. So kommuniziert sie den Tatbestand, dass wir den Sinn des Ganzen der Welt und unseres eigenen Daseins in ihr nicht zu erfassen vermögen und uns gleichwohl in ihn einbezogen finden. Dies ist der Kerngedanke der Religionstheorie Niklas Luhmanns, an die sich K. durchgängig, ja geradezu konfessorisch anschließt. Es lässt sich das Buch insgesamt als Anmerkung zu Luhmann lesen, wobei eben im einleitenden Theoriekapitel (25–44) auch noch der Versuch unternommen wird, sowohl die phänome nologischen (R. Otto), wie wissenssoziologischen (Berger/Luckmann), wie kulturanthropologischen (C. Geertz) Theoriezugriffe auf die Religion der Luhmannschen Auffassung von Religion als einem die Unterscheidung von Transzendenz und Immanenz vollziehenden und auf die Erfahrung der Unverfügbarkeit des Ganzen der Gesellschaft und unseres menschlichen Lebens anwendenden, kommunikativen Sachverhalt einzuordnen.
Den ebenso weiten, funktional-allgemeinen wie unterscheidungsstarken Begriff der Religion möchte K. mit diesem Buch der Religionsforschung, auch und gerade sofern diese empirisch vorgeht, empfehlen. Denn da Religion somit über einen bestimmten Kommunikationscode, eben die Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz, verfüge, liege Religion in der gesellschaftlichen Wirklichkeit immer dann vor, wenn Kontingenzerfahrungen im Lichte der Differenz von Immanenz und Transzendenz thematisiert werden. K. folgt denn auch der Spur, um zu zeigen, dass am Leitfaden dieses weiten, funktionalen Religionsbegriffs sowohl alles und jedes zum Gegenstand religiöser Kommunikation werden kann, als auch der Vollzug religiöser Kommunikation in alle gesellschaftlichen Funktionssysteme eingreifen und deren Operationen unter der Berücksichtigung dieser Differenz von Immanenz und Transzendenz thematisieren kann. Der über die Einheit der Un­terscheidung von Immanenz und Transzendenz definierte kommunikationstheoretische Begriff der Religion erlaubt es, so zeigt er zu Recht, die Religion auf ein Bezugsproblem bezogen zu sehen, das von schlechthin unüberbietbarer gesellschaftlicher Allgemeinheit ist. Da alle gesellschaftliche Kommunikation, sei es die der Politik oder der Wirtschaft, des Rechts oder der Moral, der Kunst oder der Kultur sich vor einem letztlich nicht mehr von ihr selbst bestimmbaren, somit ihr transzendenten Horizont vollzieht, taucht in aller gesellschaftlicher Kommunikation das Problem der Bestimmung des Unbestimmbaren, der Bewältigung von Kontingenz, der Deutung des Sinns des Ganzen auf. Gesellschaft ist unhintergehbar auf Religion angewiesen, denn sie bearbeitet das Problem, wie mit dem letztlich Unbestimmbaren so umzugehen ist, dass wir uns zu ihm verhalten, es in seiner Unbestimmbarkeit bestimmbar machen können, ohne es selbst ins Bestimmbare einzuziehen und zu einem endlichen, bestimmten Gegenstand zu machen. Letzteres wäre im Grunde nur die Aufladung endlich Bestimmtem mit unendlichem Bedeutungsgehalt, seine Idolisierung und Fetischisierung. Eine Gefahr, die jeder Religion droht. Um genau sie, so K., muss eine unterscheidungsstarke Religions theorie wissen. Dann kann sie erkennen, ob es sich bei religiöser Kommunikation wirklich um Religion oder lediglich um Religionsersatz handelt.
Wo aber ist Religion und damit die Leistung, die sie für die Gesellschaft als Ganze erbringt und erbringen muss, in der Gesellschaft konkret zu finden? Wo kommt sie empirisch vor? Das ist die Frage, die K. beschäftigt: »Wo bleibt die Religion?«, so auch der Titel des Buches. Diese Frage drängt sich ihm auf angesichts des offenkundigen gesellschaftlichen Resonanzverlustes der organisierten Religion, der großen Kirchen, ihrem Mitgliederschwund und dann eben der, wie er es nennt, »Diffundierung« der Religion ins Religiöse. Die verfasste und kirchliche organisierte Religion erfüllt seiner Meinung nach immer weniger die gesellschaftlich notwendige Funktion der Religion. Sie leistet nicht mehr, was sie leisten müsste, nämlich die erfolgreiche, d. h. anschlussfähige Kommunikation über die Unbestimmbarkeit des Unbestimmbaren. Es gelingt ihr nicht mehr oder nicht gut genug, die religiösen Sinngehalte, die die tradierte religiöse Semantik und Symbolik in sich birgt, so zu kommunizieren, dass sie als Beantwortung der letztlich unbeantwortbaren Fragen nach dem Sinn des Ganzen, wie sie gesellschaftlich und im Leben jedes einzelnen aufbrechen, verstanden und angeeignet werden können. Die organisierte Religion, also vor allem die Kirchen, erweisen sich mehr und mehr als religionsunfähig. Das wird zwar von K. mit dieser Deutlichkeit nicht gesagt, versucht man seine hochabstrakten und umwegigen Ausführungen auf den Punkt zu bringen, findet man jedoch genau die Diagnose bestätigt, die der kürzlich verstorbene Praktische Theologe Volker Drehsen schon anfangs der 1990er Jahre, auf ähnlichen Analysen und Theoriehintergründen aufbauend, vorgetragen hat (vgl. V. Drehsen, Wie religionsfähig ist die Volkskirche?, Gütersloh 1993).
Das Versagen der organisierten Religion bei der gesellschaftlich notwendigen Erfüllung der Funktion der Religion hat nun freilich auch genau diese Verflüssigung der Religion ins Religiöse zur Folge. K. versteht darunter die Prozesse, in denen sich religiöse Kommunikation in die anderen gesellschaftlichen Funktionssysteme verlagert und von diesen selbst erbracht wird. Das Bezugsproblem der Religion ist eben ein solches, dem sich die Gesellschaft unter keinen Umständen entziehen kann, das daher auch in allen gesellschaftlichen Funktionssystemen, von der Politik bis zur Kunst usw. immer dann auftritt, wenn es um das Ganze und seinen Sinn geht, um die Bestimmung somit letzter Unbestimmbarkeit, um die Bewältigung von Kontingenz, um die Unverfügbarkeit des Daseins.
Die Phänomene, die K. bei seiner Beschreibung des gesellschaftlich präsenten »Religiösen« vorstellt, zeigen dann freilich alle einen höchst ambivalenten Charakter. Der Begriff des »Religiösen« nimmt durchweg einen pejorativen Klang an. Unter der Hand zieht in den formal-deskriptiv eingeführten funktionalen Religionsbegriff die religiöse Semantik der organisierten Religion, sprich der christlichen Kirchen ein. Obwohl K. von ihr meint sagen zu müssen, dass sie in religiöser Kommunikation nicht mehr leistet, was sie leisten sollte, formuliert die christliche Semantik doch immer noch die Kriterien dafür, ob Religion vorliegt oder es sich allenfalls um Ersatzreligion handelt. Das »Religiöse« führt durchweg in gefährliche »Sakralisierungen«, d. h. in Aufladungen des Immanenten mit religiösen Letztgültigkeitsansprüchen oder in bloß »funktionale Äquivalente von Religion«, die lediglich ökonomische, ästhetische, psychologische usw. Interessen kaschieren. So endet die Diagnose der gegenwärtigen religiösen Lage geradezu aporetisch. Die Religion, die dann doch mit der kirchlich organisierten mehr oder weniger gleichgesetzt wird, leistet nicht mehr, was sie für die Gesellschaft leisten soll. Die Gesellschaft, die sich aus eigenen Kräften religiös zu helfen versucht, indem sie überall die Präsenz des Religiösen erkennen lässt, verfehlt den wahren Sinn der Religion.
Muss man das so sehen? Ich meine nicht. Weder würde ich über den kommunikativen Leistungen der Kirchen und ihrem Bemühen, den religiösen Deutungssinn der traditionellen Symbolbestände freizulegen, so pauschal den Stab brechen, noch würde ich der Wahrnehmung den religiösen Sinngrundierungen sowohl der Lebenswelt wie der gesellschaftlichen Funktionssysteme durchgängig mit dem Verdacht begegnen, dass diese Präsenz des Religiösen an der Wahrheit der Religion immer nur vorbeigeht. Doch um das zeigen zu können, muss sowohl die religiöse Semantik wie die Präsenz des Religiösen im Lichte der in sie einbezogenen, sie kommunizierenden Menschen interpretiert werden. Es gibt religiöse Kommunikation m. E. nicht ohne die sie vollziehenden Menschen. Von ihnen, ihren religiösen Sinnbedürfnissen und unendlichen Sinnerfahrungen freilich meint K. im Gefolge Luhmanns absehen zu können. Vielleicht liegt es an diesem Ausfall des Versuchs, die Religion unter Einbezug der Menschen, die sie leben zu verstehen, dass der Religionssoziologe, der an keiner Stelle das Gespräch mit der Theologie sucht, zuletzt selbst theologisch so ungeheuer ge­genständlich-normativ auftritt?