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Ausgabe:

Mai/2013

Spalte:

572–574

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Wojtkowiak, Heiko

Titel/Untertitel:

Christologie und Ethik im Philipperbrief. Studien zur Handlungsorientierung einer frühchristlichen Gemeinde in paganer Umwelt.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012. 344 S. = Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments, 243. Geb. EUR 94,95. ISBN 978-3-525-53541-7.

Rezensent:

Eve-Marie Becker

Die makedonische Stadt Philippi und der an sie gerichtete Brief des Paulus haben in den vergangenen Jahren große Aufmerksamkeit in der Paulus-Forschung gefunden. Das lässt sich u.a. auf den Umstand zurückführen, dass hierbei – anders noch, als es bei Ernst Lohmeyers (1929/30) wirkungsvoller Kommentierung des Briefes im KEK der Fall war – die lokalgeschichtliche Methode und Textexegese zusammenfinden können: Die Geschichte und Entwicklung der Stadt könnte ein Licht auf die sozialhistorische Verortung und Prägung der paulinischen Gemeinde werfen, und umgekehrt spiegelt der Philipperbrief wider, welchen Kommunikationsstil Paulus mit einer Adressatengruppe wählt, die sich in einem deutlich römisch beeinflussten Kontext befindet (so allerdings schon Lohmeyer, der von einem »Klein-Rom im Osten« spricht, 2). Wenn also nach der paulinischen Perzeption speziell der römischen Welt gefragt werden soll, so bietet sich – wichtiger noch als die lukanische Darstellung in der Apostelgeschichte – der Philipperbrief als gegenwärtig gemeinhin orthonym verstandene historische und literarische Quelle an. Dabei könnten binnenexegetische Fragen (Datierung, Einheitlichkeit des Briefes etc.) und die lokalgeschichtliche Me­-thode (auf der Basis besonders des archäologischen und epigra-phischen Materials) Hand in Hand greifen. Der Fokus liegt dann jeweils auf der Erschließung der gemeindlichen Situation in Phi­-lippi. Ob durch die Einbeziehung der Lokalgeschichte jedoch der Gefahr eines letztlich zirkulär bleibenden mirror reading schlüssig entgegengewirkt werden kann, muss bezweifelt werden. Das lokalgeschichtliche Material nämlich ist in seinem Aussagewert für die paulinische Missionsgeschichte im 1. Jh. n. Chr. äußerst begrenzt, so dass das Ausgehen von der sog. ›Situation der Gemeinde‹ – um so wiederum die Pragmatik und den literarischen Charakter des Briefes zu bestimmen –, faktisch voraussetzt, dass die Gemeindesituation zuletzt doch aus dem Brief selbst rekonstruiert wurde. Hier liegt ein bleibendes Dilemma der Forschung.
Die vorliegende Dissertation von Heiko Wojtkowiak, die unter Betreuung von Dietrich-Alex Koch entstanden und im Sommersemester 2011 an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster eingereicht wurde, versucht diesen Handschlag von Exegese und Lokalgeschichte abzubilden und für die Interpretation des Briefes fruchtbar zu machen. Sie ist in sechs Teile untergliedert (»1. Einleitung, 2. Der sogenannte Christushymnus, 3. Die Rezeption des Christuspsalms, 4. Das Leiden der Christen und die pagane Religiosität, 5. Der Philipperbrief als Reaktion auf einen Wertekonflikt in Philippi, 6. Fazit und Ausblick«), in denen vor allem die Herkunft des »Christuspsalms«, dessen theologische und literarische Einbettung im Briefganzen des Phil sowie seine ethische Pragmatik im Blick auf die Kommunikation mit einer römisch geprägten Leserschaft im Mittelpunkt stehen.
Das genannte Dilemma des mirror reading lässt sich freilich nicht lösen: Zwar stellt W. in seiner forschungsgeschichtlichen Einführung (11–77) die durch Lohmeyer aufgebrachte These einer durch Martyrien geprägten Gemeindesituation (»ein Märtyrer [spricht] zu Märtyrern«, Lohmeyer, 5) durchaus kritisch dar (31 ff.), doch scheint W.s Analyse in weiten Teilen Lohmeyer zu folgen: So liest er Phil 3,18 als Hinweis auf »ehemalige Mitglieder«, die »die Gemeinde aufgrund von Leidenserfahrungen verlassen haben« (196), und greift auch darüber hinausgehend die Leidensthematik abschließend wieder selbstverständlich auf (231 ff.), ohne überhaupt ihren realen Stellenwert in der frühen Missionsgeschichte zu hinterfragen: Von welchen konkreten Leidenserfahrungen ist in Philippi überhaupt auszugehen? Haben diese einen Anhalt an der Textbasis (W. verweist hierbei auf Phil 1,27–30)? Hier scheint sich eher ein forschungsgeschichtlicher Diskurs über die Rekonstruktion der Gemeindesituation von Lohmeyer bis Peter Oakes nachhaltig verselbständigt zu haben.
Im Ergebnis deutet W. dann, nachdem er fortlaufend die römische Profilierung Philippis vor allem religionsgeschichtlich (z. B. Herrscherverehrung) und sozialgeschichtlich (Wertediskurs) in den Blick genommen hat, den Phil als »Reaktion auf einen Wertekonflikt in Philippi« (251 ff.), bei dem die Leidenserfahrungen des Apostels und der Gemeinde in ein Verhältnis zueinander gestellt werden. »Status und Ehre« bilden den wesentlichen Rahmen, in dem der Wertediskurs angesiedelt ist (149 ff.). Für Adressaten in einem römisch geprägten Umfeld nämlich – so W. – sind Leiden und Leidenserfahrungen im Zusammenhang mit Religion unbekannt und unerwünscht: So lassen sich die »Spannungen in der Gemeinde Philippis nicht zuletzt vor dem Hintergrund eines über die Leidenserfahrungen an sich hinausreichenden Wertekonflikts« verstehen (251). Dieser Konflikt bildet für W. den eigentlichen Rahmen des Phil und den Hintergrund für die hierin entworfenen exempla (besonders Epaphroditus: Phil 2,25–30; 266). Auch der »Christuspsalm« in Phil 2 dient im Kontext des Gesamtbriefes letztlich der christologisch fundierten Ethik der Nachahmung.
Die Monographie bietet im Blick auf die Exegese von Phil 2 und die verschiedenen Überlegungen zu den Einleitungsfragen eine überaus nützliche Bestandsaufnahme zum status quo der Phil-Forschung. Die eigenen Schlussfolgerungen oder Thesen, die W. im Verlauf seiner Darstellung im Blick auf einleitungsgeschichtliche Fragestellungen perspektiviert (besonders 285–299: »Fazit und Ausblick«), sind jedoch als solche wenig überraschend. Sie nehmen vielmehr im Wesentlichen das in Variation auf, was von Baur, Deissmann und Lohmeyer bis hin zu Oakes in der Phil-Forschung kontinuierlich diskutiert worden ist: So datiert W. den Phil, den er in Ermangelung gegenteiliger Evidenzen für literarisch einheitlich hält (76 f.282), vorzugsweise in die seit Deissmann vermutete Zeit der ephesinischen Gefangenschaft des Paulus. Er begründet dies zum einen mit argumentativen Schwächen der Rom- und Caesarea-Hypothesen, zum anderen mit technischen (rege Kommuni­kation mit den Philippern) und theologischen (»Behandlung der Israelthematik in Phil 3 vor Röm 9–11«) Argumenten (69). W. ordnet– weitgehend im Anschluss an Günther Bornkamms Rekonstruktion der korinthischen Korrespondenz – die Abfassung des Phil zwischen 2Kor 10–13 und 1,1–2,13; 7,5–16 ein und datiert sie auf 54 n. Chr. (291.293).
W. hält Phil 2,6–11 weder für einen Hymnus noch für ein Enkomion, sondern bezeichnet den Text als »Christuspsalm«, um so dessen »judenchristliche Herkunft […] und […] sprachliche Nähe zur semitischen Literatur« herauszustellen (120). Literar- und redaktionskritisch deutet W. Phil 2 in der Forschungstendenz, die sich in bleibender Reaktion auf das Baursche Verdikt der unpaulinischen Sprachgestalt (80) des Textes und in modifizierter Weiterführung der mit Lohmeyer aufgebrachten These, in Phil 2,6–11 eine vorpaulinische Tradition zu sehen, etabliert hat: Der Christuspsalm versucht demnach, die Kyriotes Christi vor dem Hintergrund der römischen Herrscherverehrung (94) zu legitimieren (120 f.), weckt also durchaus politische Assoziationen (112). Dieses ursprünglich christologisch geprägte Traditionsstück (113), hinter dem ein »hellenistisch-judenchristlicher Verfasser« zu vermuten ist (121), hat Paulus ethisch rezipiert (285–287) und hierbei in Entsprechung zu antiker paganer und jüdischer Paraklese paradigmatisch zum Einsatz gebracht (134–144).
Ob durch diese ethische Applikation indes der ursprünglich politische Charakter des Textes abgeschwächt oder gar transformiert wird, diskutiert W. leider nicht weiter (allerdings angekündigt: 112). Er spricht lediglich davon, dass der Chris­tuspsalm ›vorbildethisch‹ adaptiert werde (229). Gerade hier hätte die Untersuchung jedoch neues Licht auf die oftmals einseitig ge­führte »Paul and Politics«-Debatte werfen können. Eine der Stärken der vorliegenden Monographie liegt gleichwohl darin, eine umfassende und im Detail sorgfältig erarbeitete literarische und theologische Gesamtdeutung des Phil vorzuschlagen, ohne dabei einzelne Teilabschnitte (z. B. 4,10–20/23) auszuklammern und epistolographisch isoliert zu betrachten (z. B. 278 ff.).
Es wird im Ergebnis zu­dem deutlich, wie Paulus eine römisch geprägte Leserschaft in Makedonien angesprochen hat: nämlich mit den ihr vertrauten Mitteln vorbildethischer Paraklese. So be­gegnet der Philipperbrief letztlich als ein Dokument, in dem Paulus gerade in produktiver Auseinandersetzung mit der römischen Welt eine für ihn selbst eher ungewöhnliche Ethik der Vorbildfunktion Christi entwirft (297 ff.).