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Ausgabe:

Oktober/2012

Spalte:

1052–1053

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Parry, Robin

Titel/Untertitel:

Lamentations.

Verlag:

Grand Rapids/Cambridge: Eerdmans 2010. XII, 260 S. m. Abb. 23,0 x 15,5 cm = The Two Horizons Old Testament Commentary. Kart. US$ 22,00. ISBN 978-0-8028-2714-2.

Rezensent:

Renate Brandscheidt

Dieser ausdrücklich einer theologischen Auslegung verpflichtete Kommentar zum alttestamentlichen Buch der Klagelieder hat, wie Robin Parry in der Einleitung (1–34) ausführt, gemäß dem Programm der Reihe »The Two Horizons« das Ziel, im ersten Teil durch wissenschaftliche Exegese die Aussage des Buches zu erheben und im zweiten Teil auf dem Weg einer umfassenden Reflexion herauszufinden, wie sich – bildlich ausgedrückt – die Stimme seines Kerygmas im Raum der Kirche anhört und verändert.
Zu Beginn seiner Untersuchung beschäftigt sich P. mit grundlegenden Fragen zur literarischen Gestalt und theologischen Aussage der Klgl, insoweit sie der eigenen Positionierung dienlich sind. Folgende Sachverhalte fallen auf: Die Frage der unterschiedlichen Verfasserschaft der einzelnen, nach dem Fall Jerusalems 586 v. Chr. geschriebenen Lieder tritt für P. hinter der Aufgabe zurück, die Stellung eines jeden Liedes im Buchganzen herauszuarbeiten (4 f.). In Abgrenzung zu einer religionsgeschichtlichen Auslegung stellt P. fest, dass das im Babylonischen Exil aller Wahrscheinlichkeit nach für Klagegottesdienste in Juda abgefasste Buch mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten zu der im Alten Orient bekannten Gattung der Stadtklage aufweist, weshalb dieser Horizont nicht als bestimmend für das Verständnis der Klgl anzusehen sei (8). In der Frage nach der Gattung der Klgl plädiert P. für eine Mischung aus Totenklage und allgemeiner Klage (11). Eine Erklärung für die in Klgl 2–4 veränderte Reihenfolge in der Alphabet-Akrostichie bleibt P. schuldig (13). Die Botschaft des Buches ist, wie die konzentrische Struktur in der Anordnung der fünf Lieder es ausweist, nach Meinung P.s ganzheitlich auf die Katastrophe des Gottesvolkes ausgerichtet. Nachdem sich nämlich in Klgl 1 und 5 der Blick auf die Gegenwart und in Klgl 2 und 4 auf die Vergangenheit der Katastrophe gerichtet hat, kommt in Klgl 3 ein Repräsentant der Leiden des Volkes zu Wort, der sowohl als Zeuge einer von Verzweiflung angefochtenen Glaubenshaltung wie auch als Anwalt einer verhaltenen Hoffnung auftritt (17 f.). Den Schlüssel zum theologischen Verständnis der Klgl sieht P. in der Bundestheologie. Jahwe als der Herr des Bundes übereignet das bundbrüchige Israel mittels der Babylonier einem Strafleiden, kündigt den Bund aber nicht, da der Zorn als Reaktion auf die Sünde des Menschen keine Wesenseigenschaft Jahwes ist (28–33).
Auf diese Einleitung folgt eine theologische Exegese von Klgl 1–5, an die sich eine Reflexion der Botschaft von Klgl 1–5 im Kontext des Jeremia- und Deuterojesajabuches sowie des Neuen Testamentes anschließt, wobei sich zu guter Letzt der Blick auch noch auf Fragen der christlichen Spiritualität und Ethik richtet. Auch erweiterte Kontexte (»Die Klgl und der christliche Antisemitismus« [174 ff.] sowie »Die Klgl und die politische Theologie« [176 ff.]) kommen zur Sprache.
Die Ausführungen des Kommentars lassen durchweg einen theologisch anerkennenswerten Umgang mit dem Kerygma des Buches und eine löbliche Weite bei der ökumenischen Behandlung seiner Horizonte erkennen. Es ist jedoch bedauerlich, dass P. die Eigenart der biblischen Bücher und die in ihnen aufbewahrte Überlieferungsbewegung nicht berücksichtigt und daher an einer Aufarbeitung des Buches der Klgl als Traditionsliteratur, d.h. als eines Werkes, das im Überlieferungsprozess das glaubensgeschichtliche Wachsen und Reifen des Gottesvolkes widerspiegelt, wenig interessiert ist, weshalb die Einbettung der Klgl in die Theologie Israels im Exil und danach nur teilweise gelingt. Die Betrachtung der Klgl im Kontext der Bücher Jer (161 f.) und Dt-Jes (162 ff.) und des Neuen Testaments (168 ff.) vollzieht sich nämlich auf der Ebene einer Endtextexegese, die gleichsam von hinten her den bezeugten Weg Gottes systematisiert (s. auch den Abschnitt über den Jahwetag, 197 ff.) und dabei die Aussagen der biblischen Bücher in eine konforme Übersicht bringt. Damit fördert P. sicherlich wertvolle spirituelle Einsichten zutage, jedoch bleibt, da eine exegetisch-historische Aufarbeitung fehlt, die Geschichte der Wahr­nehmung Gottes auf der Strecke. Die Auseinandersetzung mit der Genese und der Gattung des Buches der Klgl als Gerichtsklagen sowie eine Untersuchung der im Hintergrund von Klgl 3 stehenden Entwicklung von der Mittlerklage zur Klage des leidenden Gerechten (vgl. R. Brandscheidt: Gotteszorn und Menschenleid. Die Gerichtsklage des leidenden Gerechten in Klgl 3, Trierer Theologische Studien Band 41, Trier 1983, und den darauf basierenden Kommentar: Das Buch der Klagelieder, Düsseldorf 1988, den P. im Literaturverzeichnis zwar vermerkt, aber nicht wirklich gelesen hat) hätten zu einer vertieften Erkenntnis in die theologisch bedeutsamen Situationen der Führungsgeschichte Gottes mit seinem Volk geführt. Insgesamt kann das Buch jedoch als Impulsgeber für die Aneignung der Botschaft der Klgl durchaus als hilfreich angesehen werden.