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Ausgabe:

Mai/2012

Spalte:

565–566

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Holze, Heinrich

Titel/Untertitel:

Die Kirchen des Nordens in der Neuzeit (16. bis 20. Jahrhundert).

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2011. 291 S. 24,0 x 17,0 cm = Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen, III/11. Geb. EUR 34,00. ISBN 978-3-374-02497-1.

Rezensent:

Martin Friedrich

Es muss kein Nachteil sein, wenn der Verfasser einer Überblicks­darstellung keinen Forschungsschwerpunkt im dargestellten Gebiet hat. Der Rostocker Kirchenhistoriker Heinrich Holze, der vor allem in der Patristik ausgewiesen ist, musste offensichtlich kurzfristig für den emeritierten Kirchenhistoriker Harry Lenhammar aus Uppsala einspringen, der jahrelang als Autor des vorletzten noch ausstehenden Bandes der »Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen« angekündigt war. In relativ kurzer Zeit lieferte H. eine Darstellung, die dem hohen Niveau der Reihe entspricht, allerdings auch manche Schwächen anderer Bände teilt.
H. gibt in bewundernswerter Detailfülle einen Überblick über fünf Jahrhunderte Kirchengeschichte in den nordischen Ländern, wozu für ihn nicht nur Dänemark, Norwegen, Schweden und Finnland gehören, sondern auch die Färöer, Island und Grönland. Er begibt sich im Allgemeinen nicht in Forschungskontroversen und will nicht vorrangig eine These entwickeln und begründen, sondern darlegen, was communis opinio ist. Die Darstellung beschränkt sich nicht auf die lutherischen Mehrheitskirchen, hat eine besondere Stärke in der Einbettung der Kirchengeschichte in die allgemeine Geschichte Skandinaviens und ist im Wesentlichen zuverlässig – wenn auch nicht durchgängig spannend zu lesen, wozu schon der Aufbau beiträgt.
Innerhalb von drei großen Blöcken (Frühe Neuzeit, 19. Jh., 20. Jh.) gibt es insgesamt 20 weitgehend chronologisch angeordnete Kapitel; und in jedem Kapitel wird nach einer Einleitung von meist nur wenigen Zeilen jede – oder fast jede – der sieben geographischen Einheiten behandelt. Da aber die kirchenpolitischen Vorgaben und auch die wesentlichen kulturellen Impulse jahrhundertelang vor allem aus den Hauptländern Schweden und Dänemark kamen, erfährt man aus den Nebenländern vieles, was deutlich weniger zentral ist. Die letzte deutschsprachige Darstellung desselben Ge­genstands, Poul Georg Lindhardts »Kirchengeschichte Skandinaviens« von 1983, hatte sich auf die großen Reiche und die großen Linien konzentriert und war an Einzelheiten manches schuldig geblieben. H. verfällt leider oft ins gegenteilige Extrem und nennt auf einer einzigen Seite manchmal mehr als zehn Personennamen (sehr hilfreich ist deshalb das Personenregister!), so dass die wirklich zentralen Gestalten oder auch die übergreifenden Tendenzen weniger deutlich zutage treten. Insgesamt ist das Werk so vielschichtig, dass eine Zusammenfassung kaum gegeben werden kann.
Auffallend, aber einleuchtend ist, dass der Reformation weniger Aufmerksamkeit geschenkt wird (nicht einmal 50 Seiten für das 16. und frühe 17. Jh.!), denn hierzu liegen eine Reihe deutschsprachiger Werke vor, während die spätere Zeit viel weniger bekannt ist. Zudem – und hier ist H. doch bei der zentralen These seines Werkes– ist die Entwicklung in den skandinavischen Ländern in dieser Epoche noch weitgehend von Deutschland geprägt. Auch die pie­-tis­tischen und aufklärerischen Strömungen kamen meist von Süden. Erst seit dem 19. Jh. sind es, neben deutscher Romantik und Kulturprotestantismus, auch das angelsächsische Freikirchentum und vor allem die Einflüsse der Oxford-Bewegung, die tiefe Wurzeln schlugen und, so H., im 20. Jh. das Selbstverständnis der luthe­-rischen Kirchen des Nordens tiefgreifend umprägten. Statt einer Orientierung am kontinentalen Protestantismus sind es nun die Verbundenheit mit dem Anglikanismus und eine hochkirchliche Amtstheologie, die von den skandinavischen Volkskirchen in das ökumenische Gespräch eingebracht wird.
H. blendet keineswegs aus, dass es neben dieser Linie noch eine ganze Reihe eigener Entwicklungen gab. Er widersteht auch der vor allem in Schweden spürbaren Tendenz, den skandinavischen Sonderweg allzu früh anzusetzen, denn, wie er richtig schreibt, spielte die apostolische Sukzession der Bischöfe bis ins 19. Jh. hinein überhaupt keine Rolle. Trotzdem scheint er den Einfluss der Oxford-Bewegung deutlich zu überschätzen. Das geschieht auch dadurch, dass er die von John Henry Newman in den 1830er Jahren begründete anglokatholische Bewegung kurzerhand mit der von Frank Buchman in den 1920er Jahren gegründeten und von ihr völlig unabhängigen Oxford-Gruppe (»Moralische Aufrüstung«) identifiziert (vgl. 210 f. mit den Anmerkungen 137 f.; 219). Falsch (und bei näherem Hinsehen unmöglich) ist auch, dass der Finne Paul Juusten (geb. 1516!) in Rom die Bischofsweihe empfangen habe, bevor er sich der Reformation zugewandt habe (22). Tatsächlich wurde er 1554 gemeinsam mit Mikael Agricola vom Strängnäser Bischof Botvid Sunesson als Bischof (»Ordinarius«) eingeführt, nachdem er in Wittenberg studiert und schon etliche Jahre im Dienste der Reformation gestanden hatte. So ist er (möglicherweise) ein wichtiges Glied in der Kette der apostolischen Sukzession im Bischofsamt in Schweden, aber es ist (was auch H. so zu sehen scheint, vgl. 27 f.) keineswegs sicher, dass er an den Bischofsweihen 1575 beteiligt war.
Ansonsten aber, das sei gern wiederholt, ist das Werk gerade in seiner differenzierten und detailreichen Darstellung eine gute erste Anlaufstelle für alle, die sich mit einzelnen Aspekten der nordischen Kirchengeschichte beschäftigen wollen.