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Ausgabe:

Januar/1996

Spalte:

55 f

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Söding, Thomas

Titel/Untertitel:

Das Liebesgebot bei Paulus. Die Mahnung zur Agape im Rahmen der paulinischen Ethik.

Verlag:

Münster: Aschendorff 1995. X, 330 S. gr.8o = Neutestamentliche Abhandlungen, NF 26. Lw. DM 90,­. ISBN 3-402-04774-8.

Rezensent:

Eduard Lohse

Diese sorgfältig gearbeitete Abhandlung, die 1991 von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster als Habilitationsschrift angenommen wurde, zeichnet sich sowohl durch methodische Umsicht in der Interpretation der einschlägigen Texte als auch durch systematische Urteilskraft des Vf.s aus. Er hat sich die Aufgabe gestellt, das Verständnis der Agape bei Paulus zu untersuchen. Dabei achtet er nicht nur auf Vorkommen und Sinngebung des Begriffs, sondern stellt dessen Verwendung in den jeweiligen Kontext hinein und erhebt aus diesem, welche Bedeutung dem Liebesgebot bei Paulus zukommt. So wird sowohl dessen inhaltliche Bestimmung erhellt als auch in weitem Umfang ein Grundriß der paulinischen Ethik entworfen. Deren Aussagen aber sind nicht nur für eine historische Untersuchung relevant, sondern können darüber hinaus ­ wie im Schlußteil knapp und präzis herausgestellt wird ­ für das christlich-jüdische wie auch das interkonfessionelle Gespräch und für die Grundlegung der Moraltheologie wichtige Impulse vermitteln.

Zunächst werden die atl.-jüdischen Voraussetzungen des Liebesgebotes dahingehend beschrieben, daß Nächstenliebe "die vorbehaltlose Annahme und Bejahung des nächsten als des Stammesgenossen und Bundesbruders" sei (50) und ihre Praxis "eine ausgezeichnete Form des Gesetzesgehorsams" (63) darstelle. Das im hellenistischen Judentum entwickelte Verständnis der Nächstenliebe setzt der Apostel Paulus voraus, wenn er nun seinerseits das Liebesgebot für seine Gemeinden entfaltet. Um ein genaues Bild zu gewinnen, untersucht der Vf. die authentischen Briefe des Apostels in der anzunehmenden zeitlichen Folge ihrer Abfassung und trägt erst am Ende die Ergebnisse zusammen. Auf diese Weise wird sichergestellt, daß jeder Text nach seiner ihm eigenen Aussageintention in gebührender Weise zu Wort kommt.

Bereits in 1Thess wird die Agape "als Grundprinzip christlicher Ethik" aufgefaßt (70), wobei sich die Nächstenliebe in erster Linie auf die Mitchristen richtet (95). In der korinthischen Korrespondenz wird der untrennbare Zusammenhang zwischen Gotteserkenntnis und Bruderliebe aufgewiesen (119) und die Agape nach 1Kor 13 als "das letztgültige Kriterium allen christlichen Denkens und Handelns" (143) bestimmt. Dabei "führt die Betonung der Agape keineswegs zur Vernachlässigung konkreter Einzelgebote" (159). Denn mit der Mahnung zur Agape ist "zwar das entscheidende, aber noch nicht alles zur christlichen Ethik gesagt" (160).

In den Gefangenschaftsbriefen an Philemon und an die Philipper kommt "die Grundbedeutung rückhaltloser Bejahung des Nächsten als des von Gott in Jesus Christus Bejahten" zum Ausdruck (186). In Gal aber wird dann "die Agape-Thematik programmatisch im Horizont der Rechtfertigungslehre" bedacht (187). Verbindet der Apostel das Liebesgebot von Lev 19,18 mit dem Dekalog (257), so wird Erfüllung nicht als quantitative, sondern als qualitative Kategorie verstanden (209). "Mit Gal 5,14 und der variierenden Aufnahme in Rö 13,8 ff. hat Paulus der gesamten christlichen Ethik im Liebesgebot eine alles bestimmende Mitte gegeben." (225) Durch diese Herausstellung der Agape wird im Galater- wie auch im Römerbrief "der gesamten christlichen Ethik die entscheidende Ausrichtung" verliehen (265), wobei "sich das Liebesgebot in spezifizierten Einzelweisungen materialisiert" (273).

Diesen jeweils gut begründeten Ergebnissen der einzelnen exegetischen Untersuchungen ist durchweg zuzustimmen. Sie ordnen das Liebegebot sowohl in den großen Zusammenhang der paulinischen Ethik wie auch der Theologie des Apostels in überzeugender Weise ein. Zwei Fragenkreise, die mit dieser Aufgabe eng verbunden sind, verdienen jedoch noch besondere Würdigung. Der eine betrifft das Problem einer etwaigen Entwicklung der von Paulus vorgetragenen Gedanken, der andere das Verhältnis des paulinischen Liebesgebotes zur Verkündigung Jesu.

Da der Vf. die Briefe des Apostels in chronologischer Reihenfolge abschreitet, hat er auch zu prüfen, ob sich hierbei gewisse Wandlungen im paulinischen Denken beobachten lassen. Zu 1Thess wird angemerkt, hier sei zwar die Agape die wichtigste Forderung innerhalb der Paraklese, doch stelle sie weder die einzig theologisch relevante Forderung dar noch sei sie in der Weise grundlegend, "daß sich der Stellenwert und Sinn der anderen Imperative aus ihr ableiten würden" (98 f.). Obwohl damit der früheste Brief des Paulus von den späteren ein wenig abgehoben wird, stellt der Vf. doch mit Recht fest, eine Entwicklung der Agape-Paraklese sei nicht nachzuweisen (278). Die paulinische Ethik sei durchgehend durch Gesetzesfreiheit bestimmt. damit wird die innere Geschlossenheit der paulinischen Ethik unterstrichen, dennoch aber von einer gewissen Wandlung des paulinischen Denkens auch auf dem Gebiet der Ethik gesprochen (ebda.). Es fragt sich jedoch, ob man angesichts seiner begrenzten Thematik das kurze Schreiben des 1Thess ­ wie es gegenwärtig auch hinsichtlich anderer Zusammenhänge verschiedentlich erwogen wird ­ wirklich so weit von den übrigen Briefen absetzen sollte, daß das Verständnis der Agape als "pneumatische(r) Partizipation an der Proexistenz des Gekreuzigten" erst auf die Auseinandersetzung mit dem korinthischen Pneumatismus zurückgeführt wird (279). Abschließend wird noch einmal zutreffend unterstrichen, daß "für Paulus die Agape-Paraklese von seiner Frühzeit an und sicher bereits vor dem Ersten Thessalonicherbrief durch die Freiheit vom Gesetz gekennzeichnet" sei (280 f.).

Das Problem, in welchem Verhältnis die paulinische Lehre von der Agape zur Verkündigung Jesu steht, hat der Vf. ständig vor Augen (99, 161, 186, 210 f., 226. 267, 282, 285). Er vertritt die Ansicht, zwar sei ein direkter Rückgriff auf Jesus-Traditionen nicht auszumachen, doch sei anzunehmen, daß Worte Jesu recht früh in die Katechese judenchristlicher Missionare aufgenommen und dann nicht mehr explizit als Jesus-Überlieferung, sondern als christliche Spruchweisheit vermittelt wurden (267). Die auffallend häufig und betonte Verwendung des Begriffs Agape in der urchristlichen Unterweisung läßt sich in der Tat ohne die Voraussetzungen, wie sie in der Verkündigung Jesu gegeben sind, schwerlich zureichend begreifen. Dann aber dürfte sich eine Untersuchung der Vorgaben, die für die paulinische Auslegung des Liebesgebots von Bedeutung sind, nicht allein auf Altes Testament und Frühjudentum beschränken, sondern müßte auch das Liebesgebot in der Verkündigung Jesu einschließen.

Was schließlich das Verhältnis von Glaube und Liebe angeht, wie es in der kontroverstheologischen Diskussion lange Zeit hindurch strittig erörtert worden ist, so hebt der Vf. zutreffend hervor, daß es sich hierbei nicht um eine Addition handeln kann, sondern "der rechtfertigende Glaube ist für Paulus der Glaube, der durch Liebe wirksam ist" (287 f.). Die Erkenntnisse, die in den umsichtig durchgeführten Analysen der Texte gewonnen wurden, wertet der Vf. am Ende aus, indem er die theologische Relevanz der paulinischen Agape-Paraklese bedenkt. Damit beweist er, daß er nicht nur mit der Genauigkeit zu arbeiten versteht, die einem Exegeten aufgegeben ist, sondern auch mit kundigem Urteil sowohl im Gespräch zwischen den theologischen Disziplinen wie auch im ökumenischen Dialog mitzuwirken weiß.