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Ausgabe:

Februar/2012

Spalte:

192–194

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Petersen, Silke

Titel/Untertitel:

Maria aus Magdala. Die Jüngerin, die Jesus liebte.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2011. 296 S. m. Abb. 19,0 x 12,0 cm = Biblische Gestalten, 23. Kart. EUR 18,80. ISBN 978-3-374-02840-5.

Rezensent:

Reinhard Nordsieck

Die Verfasserin ist Privatdozentin für Neues Testament an der Universität Hamburg. Sie hat 1998 über Jüngerinnen in christlich-gnos­tischen Schriften promoviert und sich 2005 mit einer Arbeit über johanneische Ich-bin-Worte habilitiert. Mit ihrer vorliegenden Arbeit hat sie sich einem der schwierigsten, aber auch faszinierendsten Probleme des Christentums, der sog. Magdalenenfrage, gewidmet und will mit ihrem Buch »den vielfältigen Veränderungen und Verwandlungen der Magdalenengestalt durch die Jahrhunderte« nachgehen. Gleichzeitig möchte sie auch »die Rückfrage nach der historischen Maria aus dem galiläischen Ort Magdala am See Gennesaret und ihrer Rolle innerhalb der Jesusbewegung« stellen. Besonders die letzte Frage hat im Laufe der Geschichte entweder eine »kleine« oder eine »große Lösung« gefunden. Dabei be­zog sich die erste hauptsächlich auf die neutestamentlichen Texte, die Maria aus Magdala explizit benennen, während die andere Lösung auch scheinbar andere Frauen wie die Salbende nach Mk 14,3 ff. (hier namenlos) bzw. Joh 12,1 ff. (hier mit dem Namen »Maria«) und die Maria aus Bethanien (s. Lk 10,38 ff. u. Joh 11 ff.) mit in die Identitätsfindung einbezog. P. beschränkt sich auf die derzeit auch herrschende erste Lösung, allerdings unter Berücksichtigung der ebenfalls von Maria handelnden »apokryph gewordenen«, zumeist gnostischen Texte.
Nach einer kurzen »Einführung« (A.) beschäftigt sie sich dementsprechend in ihrer »Darstellung« (B.) zunächst mit »Maria aus Magdala im Neuen Testament«. Sie setzt ein mit der Frage nach der aktiven Teilnahme von Frauen in der Jesusbewegung und damit auch mit der Einführung der Gestalt der Maria aus Magdala in der Auflistung Lk 8,1–3 (34). In drei von vier neutestamentlichen Evangelien (nämlich Mk 15,40 f., Mt 27,55 f. u. Joh 19,25) wird Maria Magdalena zuerst in den Kreuzigungsberichten genannt, während Lk 23,49 hier nur allgemein von »Frauen« spricht (38 ff.). Im Anschluss an die Kreuzigung berichten die vier Evangelien übereinstimmend von der Grablegung Jesu und der Anwesenheit der Frauen dabei, jedoch ausdrücklich von Maria aus Magdala nur in Mk 15,42 ff. und Mt 27,57 ff. (47). Darauf folgen die Grabes- und Erscheinungserzählungen, wie sie sich in Mk 16,1 ff., Mt 28,1 ff., Lk 24,1 ff. und Joh 20,1 ff. finden, wobei Maria Magdalena in sämtlichen Geschichten in verschiedenen Zusammenhängen präsent ist (48 ff.). In einem weiteren Kapitel wird die Begegnung Marias mit dem Auferstandenen (Joh 20,11 ff., desgleichen ihre matthäische Version Mt 28,9 f.) ausführlich thematisiert (61 ff.).
P. äußert sich dann zu den »Divergenzen neutestamentlicher Osterüberlieferungen« (75 ff.). Joh und Mt bezeugen nämlich die Ersterscheinung Jesu vor Maria aus Magdala. Dagegen fehlt diese Tradition in der ursprünglichen Fassung bei Mk (Mk 16,8, anders im sekundären Mk-Schluss 16,9 ff.), und auch Lk und Paulus führen sie nicht an. Besonders die beiden Letzteren sichern vielmehr den Erscheinungsprimat des Simon Petrus (Lk 24,33 f.; 1Kor 15,3–9); bei Paulus kommt Maria aus Magdala überhaupt nicht vor. Die Frage der Historizität der Protophanie vor Maria Magdalena beantwortet P. nicht direkt. Sie führt allerdings aus, dass Maria im Neuen Testament auch für die Zeit nach Ostern nicht erwähnt wird. In der Apg des Lk (1,12 ff.) wird nur noch einmal von den »Frauen« ohne Bezugnahme auf sie gesprochen. Dabei fällt auf, dass in den Evangelien für die Zeit vor Kreuzigung, Begräbnis und Auferstehung Jesu auch keine Berufungs-, Wirk- oder sonstige Vorgeschichte Marias (abgesehen von der Auflistung bei Lk 8,1 ff.) exis­tiert.
Des Weiteren befasst sich P. mit dem »apokryphen Profil« der Maria (102 ff.), zunächst im Evangelium nach Petrus, in der Epistula Apostolorum und der Schrift des Kelsos gegen die Christen. Dann in der Sophia Jesu Christi, dem Dialog des Erlösers, den Evangelien nach Maria, nach Philippus und nach Thomas sowie der Pistis Sophia, wobei sie in einem Exkurs besonders auf »Küsse im frühen Christentum« (128 ff.), dann auf den »Konflikt zwischen Petrus und Maria« im EvMar, der PS und im EvThom (144 ff.) und »Maria und die Weiblichkeit« (163 ff.) eingeht. Sie betont, dass Maria bevorzugt im Zusammenhang mit Tod und Auferstehung bzw. Erscheinungen Jesu begegne und vollständig die (nach ihr erst später erfolgte) Identifikation mit der salbenden Jüngerin fehle. Das trifft allerdings nicht zu, denn bereits in der Epistula Apostolorum tritt zusammen mit Maria auch die Schwester der Salbenden, Martha auf. Desgleichen wird in der PS, in EvPhil und EvMar Maria durchaus in vorösterlichen Zusammenhängen, nämlich als von Jesus geliebte Lebensgefährtin und Lehrerin der männlichen Jünger, ge­nannt.
Nach einer Zusammenfassung über die historische Maria geht P. unter C. zur Frage nach ihrer »Wirkung« über (197 ff.). Sie setzt dabei voraus, dass die Identifikation Marias mit (scheinbar) anderen Frauen wie der salbenden »Sünderin« und der bethanischen Maria »ein Produkt der späteren Rezeptionsgeschichte« sei und sich nicht aus den neutestamentlichen bzw. apokryphen Texten ergebe. Das ist aber seit eh und je die große Streitfrage, die einer sorgfältigen Be­gründung und nicht bloßer Behauptung bedurft hätte. Gerade bei der hier besonders angebrachten »feministischen Hermeneutik des Verdachts« (nach E. Schüssler Fiorenza) darf heute nicht vergessen werden, dass Maria in auffälliger Weise einer von der androzentrischen Umwelt verursachten Diskriminierung unterlag: Paulus verschweigt sie offenbar wegen ihrer fehlenden Zeugnisfähigkeit als Frau in seinem Zeugenkatalog 1Kor 15,3 ff. Der ihm nahestehende Lukas sieht sich zu mehrfachen Auslassungen in seinem Evangelium und dem völligen Fehlen Marias in der Apg veranlasst. Das petrinische Christentum ist sicher beeinflusst durch die ungewöhnliche Animosität, die der Apostel Petrus ihr gegenüber und allgemein gegenüber Frauen pflegte (vgl. die dreifachen Bezeugungen seines ablehnenden Verhaltens in den apokryphen Schriften). Das scheint sich besonders auch im Evangelium des Mk, seines »Hermeneuten« niederzuschlagen, der den Namen der Salbenden in Mk 14,3 ff. weglässt, obwohl ihre Salbung nach 14,9 »in aller Welt« »zu ihrem Gedächtnis« erzählt werden soll. Allein das JohEv lässt Maria aus noch im Einzelnen zu klärenden Gründen Gerechtigkeit widerfahren. Insgesamt ist doch sehr unwahrscheinlich, dass die genannten »Leerstellen« rein zufällig sind und die Identität der sich dahinter verbergenden Persönlichkeit, die z. B. schon Tertullian, Hippolyt, Ephraem der Syrer, Gregor d. Gr. und viele mehr vertreten haben, nicht besteht. Bei allen schimmert doch Gemeinsames auf wie, dass sie als alleinstehend, als von Vater, Bruder oder Ehemann unabhängig und als besonders vermögend gezeichnet wird. Die Andeutungen über sie als »Sünderin« oder von »Dämonen« befallen passen zu ihrer Herkunftsbezeichnung »aus Magdala«, das wegen seiner »Unzucht« berüchtigt war (s. Strack-Billerbeck), sie müssen heute allerdings eher als Zeugnis ihrer Unabhängigkeit von gewissen sozialen Normen verstanden werden. Auch die apokryphen Bezeugungen handeln immer nur von einer einzigen Frau namens Maria. Es spricht danach alles dafür, dass diese Frau, die Jesus gesalbt hat und die restliche Salbe »für den Tag seines Begräbnisses verwahren« sollte (s. Joh 12,7), dieselbe war, die dann auch zur Salbung des Leichnams Jesu zu seinem Grab geeilt ist und dort die Ersterscheinung des Auferstandenen erlebt hat.
P. hat die »große Lösung« der Magdalenenfrage doch wohl vorschnell als nicht mehr relevant abgetan. Sie hat sie dafür in die Wirkungsgeschichte Marias verlegt, in der auch die Beziehungen zur Mutter Maria, zu Eva und zum Hohenlied, ferner die Legenda aurea und andere Heiligengeschichten auftauchen sowie die moderne Rezeption in Romanen, Gedichten und Filmen, die sie ausführlich und interessant erörtert (244 ff.).