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Ausgabe:

November/2011

Spalte:

1243-1245

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Briskina-Müller, Anna, u. Johann Schneider [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Orthodoxie und Reformation – Mehr als ein 50-jähriger Dialog. Beiträge des Deutsch-Russischen Symposiums an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg aus Anlass des 50-jährigen Jubiläums des bilateralen theologischen Dialogs zwischen der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Russischen Orthodoxen Kirche (Halle an der Saale, 1. Dezember 2009).

Verlag:

Berlin: Frank & Timme 2010. 186 S. m. Abb. 8° = Theologie/Religionswissenschaft, 10. Kart. EUR 28,00. ISBN 978-3-86596-299-7.

Rezensent:

Stefan Reichelt

Im vergangenen Jahr legten Anna Briskina-Müller und Johann Schneider den durch die Unterstützung der Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) ermöglichten Band zum inzwischen 50-jährigen Dialog zwischen der EKD und der Russischen Orthodoxen Kirche vor.
Einleitend erschließt Elena Speranskaja (Moskau) die Vorgeschichte des Dialogs in ihrem Beitrag »50 лет в диалоге« (11–26). Von orthodoxer Seite als »Völkerversöhnung konzipiert« lag dem Dialog ihres Erachtens eine »… gewisse theologische Naivität« zugrunde (16). Weiter beschreibt Speranskaja die in Russland kaum rezipierten Stationen des Dialogs. Möglicherweise hat sich, etwa im Streit um die Themen Glaube und gute Werke, Gottesdienst und Gebet, die Terminologie bei unterschiedlicher Sprache im Laufe der Gespräche mit vergleichbarem Inhalt gefüllt. Stereotype und Vorurteile wichen wirklichkeitsnahen Anschauungen des jeweiligen Partners (21). Am Ende des Artikels steht die Frage: »Wird unser Dialog alle Schwierigkeiten und Versuchungen der letzten Zeit überwinden?« (26)
Dem folgenden Beitrag von Aleksandr Mramornovs (Moskau) »Tрагический путь Русской Православной Церкви в XX в« liegt die Einsicht zugrunde, dass das Martyrium des russischen Volkes und der Kirche im 20. Jh. eine große Zahl an Bekennern und Märtyrern hervorbrachte, die sich nur mit der Epoche des frühen Christentums vergleichen lässt (43). So sammelte die geisteswissenschaftliche Hl. Tichon-Universität in einer Datenbank 30.000 »moderne« Märtyrer (52). Was geschah mit Staat, Kirche und Volk und welche Folgen zeitigt das Geschehene? Lässt sich eine Wiederholung ausschließen? Gründe für das Geschehene sieht Mramornov u. a. in einer durch Zar Peter I., den »Bol ’ševik auf dem Thron« (Nikolaj A. Berdjaev-Zitat, 45), geschwächten Kirche. Noch um die Wende vom 19. zum 20. Jh. hatte russische Theologie ein hohes Niveau und war in das System der europäischen Wissenschaften integriert (52). »Als Russland die Ketten der sowjetischen Struktur von sich abwarf, kehrte es in Vielem zurück … zu jenem unde­-finierten und unstrukturierten Zustand, in welchen es die Re­volutionsereignisse von 1917 hinterlassen hatten.« (54 f.) Heute seien die Tragödie der Russischen Kirche, Indifferentismus, militanter Säkularismus und Atheismus zu durchleben und zu überwinden.
Das Thema von Hermann Goltz († 2010) ist ein russisch-deutscher Dialog im Weißeulenkloster in Sibirien (69–84). Der Konrad Onasch, Patriarch Aleksij II. und Fairy von Lilienfeld gewidmete Beitrag berichtet – nicht ohne persönliche Eindrücke – von einer Chorreise des Hallischen Oktetts für Orthodoxe Chormusik nach Tobol’sk und Omsk – einem »Gesungenen Dialog« (77).
Siegfried T. Kasparicks (Wittenberg) Beitrag »Der Dialog der Russischen Orthodoxen Kirche und der Evangelischen Kirche in Deutschland zwischen Bekenntnis und Gebet, theologischer Konzentration und gesellschaftlichem Auftrag. Erfahrungen und Hoffnungen« widmet sich der Begründung des Dialogs, die in jüngerer Zeit erneut Bedeutung erlangte. Der seit der Zeit der Reformation begonnene Austausch ist eine Geschichte sowohl des Un­verständnisses als auch der Annäherung. Tiefes Vertrauen in Gottes kircheerhaltendes Wirken ermöglicht Gelassenheit und Ge­duld.
Günther Schulz (Schafstädt/Bad Lauchstädt) referiert zum Thema »Der Ausschuss für die Vereinigung der Kirchen des Landeskonzils der Orthodoxen Kirche in Russland« (95–104). Anhand des 1917/18 ins Leben gerufenen Ausschusses erinnert Schulz an ökumenisches Handeln als letztes Ziel der Kirche (Vladimir S. Solov’ev-Zitat, 103) – gerade in Zeiten der Verfolgung – und schließt mit den Worten: »Und gelegentlich sollte man die Orthodoxe Kirche in Russland zu ihrer eigenen großen ökumenischen Tradition wohl auch ermutigen.«
Es folgt der Beitrag von Heinz Ohme (Berlin) »Die Bedeutung der Partnerschaft zwischen der Orthodoxen Geisteswissenschaftlichen St. Tichon-Universität/Moskau (OGSTU) und der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin für die Beziehungen zwischen Russischer Orthodoxer Kirche und Evangelischer Kirche in Deutschland«. Diese Partnerschaft gewann und gewinnt vor allem in Stipendiatenarbeit, Studienkonferenzen und Wissenschaftlicher Kooperation Gestalt. Das nun durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft genehmigte Wörterbuchprojekt wird sprachliche Unterstützung über den unmittelbaren Nutzen für die Partnerschaft hinaus bieten.
Jennifer Wasmuth (Berlin) setzt ihren Artikel unter die Überschrift »Einflüsse und Abgrenzungen. Der Protestantismus im Spiegel der russischen orthodoxen Theologie des 19./20. Jahrhunderts« (113–125). Um die Wende vom 19. zum 20. Jh. gab es das sog. »Silberne Zeitalter«. Prominente Theologen, wie Vasilij V. Bolotov, Evgenij E. Golubinskij, Makarij (Bulgakov), Vasilij O. Kljucˇevskij und Nikolaj N. Glubokovskij werden stellvertretend genannt. Unter anderen wurden etwa Gottlieb Nathaniel Bonwetsch, Ferdinand Kattenbusch, Adolf v. Harnack und Friedrich Loofs als Vertreter des deutschen Protestantismus rezipiert. Wasmuth unterscheidet zwischen rezeptiv-enzyklopädischer, konfessionell-polemischer und konstruktiv-kritischer Wahrnehmung durch liberale (sic!) orthodoxe Theologie, die in ihren Konsequenzen zu einem akademischen Austausch als Ergänzung und Voraussetzung des kirchlichen Dialogs führte, wie in anderer Weise Studienaufenthalte und ökumenische theologische Entwürfe.
Hacik Rafi Gazer und Kirsten Schaper (Erlangen) berichten in ihrem Friedrich Ulmer, Waldemar Link, Karl Cramer, Eduard Steinwand und Fairy von Lilienfeld gewidmeten Beitrag von der Synodalbibliothek und Ostkirchenkunde in Erlangen. In Erinnerung an die zahlreichen an Dialogen beteiligten Kollegen der Erlanger Evangelisch-Theologischen Fakultät, wie Reinhard Slenczka (Systematische Theologie), Jürgen Roloff (Neues Testament) und die prägende Fairy von Lilienfeld – viele ihrer Schüler gehörten der Dialogkommission an (Prof. Dr. Heinz Ohme, Prof. Dr. Karl Christian Felmy sowie OKR Dr. Johann Schneider, Kirchenamt der EKD) – wurden das Dokumentationszentrum des Lutherischen Weltbundes und das Studienkolleg für orthodoxe Stipendiaten der EKD an den Martin-Luther-Bund angegliedert. Kernsubstanz des Lehrstuhls ist die Bibliothek des Hl. Regierenden Synods der Russischen Orthodoxen Kirche in St. Petersburg. Zwischen 1933 und 1935 vom Martin-Luther-Bund erworben, wurde sie zu einer wichtigen Grundlage der Ostkirchenforschung in Erlangen. Nachdem sie nun bibliothekarisch und wissenschaftlich bearbeitet wurde, dürfen neue Impulse für die theologische Dialogarbeit von ihr erhofft werden (129).
Heinz Joachim Held (Hannover) schließt den Kreis der Referierenden mit dem Beitrag »Traditionell, doch nicht überholt. Oder: Ein Hauch östlicher Orthodoxie täte dem evangelischen Christentum gut« (143–183). Dem Be­wusstwerden schmerzlicher Defizite in der gegenwärtigen evangelischen Kirche und ihrer Theologie (146) stellt Held vertiefende Einsichten aus Begegnungen mit der Glaubenswelt östlich-orthodoxer Kirche gegenüber – u.a. die göttliche Heilszuwendung im Gottesdienst, Gotteserfahrung in der Geschichte der Kirche, Glauben in und mit der Kirche, Ehrfurcht vor der Dimension des Heiligen sowie das Wachsen und Reifen im Glauben johanneischer Prägung im östlichen Christentum.
Ein Autorenverzeichnis mit biographischen Angaben folgt.
In ansprechender Form liegen damit alle Beiträge des Hallischen Symposiums aus Anlass des 50-jährigen Dialogjubiläums gedruckt vor, wobei die Vorträge der russischen Partner Elena Speranskaja und Aleksandr Mramornovs in deutscher und russischer Sprache wiedergegeben wurden, was dem kundigen Leser ermöglicht, sich einen eigenen Eindruck zu verschaffen. Für das ansehnliche und gut informierende Buch ist den Herausgebern wie den Veranstaltern zu danken, besonders dem Lehrstuhl für Konfessionskunde der Orthodoxen Kirchen für seine Arbeit ungeachtet aller »Schwierigkeiten und Versuchungen der letzten Zeit« (26).