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Ausgabe:

Juni/2011

Spalte:

692-693

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Gramzow, Christoph

Titel/Untertitel:

Diakonie in der Schule. Theoretische Einordnung und praktische Konsequenzen auf der Grundlage einer Evaluationsstudie.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2010. 636 S. m. Tab. gr.8° = Arbeiten zur Praktischen Theologie, 42. Geb. EUR 68,00. ISBN 978-3-374-02737-8.

Rezensent:

Bernd Schröder

2009 hat sich Christoph Gramzow mit der vorliegenden Arbeit an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig habilitiert. Im Kern handelt es sich um eine empirische Untersuchung des Faches »Diakonie«, der zugehörigen Praktika und einschlägiger Einstellungen von Schülerinnen und Schülern am Evangelischen Schulzentrum Michelbach/Bilz (Baden-Württemberg). Doch indem G. weiträumige Klärungen diakonischen Lernens und verallgemeinerungsfähige religionspädagogische »Perspektiven« hinzufügt, er­schließt seine Studie mehr als den Spezialfall »Diakonieunterricht« an einem Schulzentrum in kirchlicher Trägerschaft.
Die umfängliche Arbeit ist in neun Kapitel gegliedert. Die ersten vier (21–145) stecken das Feld ab: »Diakonie« wird als biblisches und christliches Handlungsgebot und -feld entfaltet, Konzepte und Modelle diakonischen Lernens werden vorgestellt. Unter den Mo­dellen fällt die Wahl auf das Ökumenische Domgymnasium Magdeburg, das Projekt Compassion, die Melanchthon-Schule Steinatal und das – im Folgenden fokussierte – »Michelbacher Mo­dell« (123–140). »Das diakonische Praktikum bildet [jeweils] den unverzichtbaren Kern diakonischen Lernens im schulischen Kontext«; diakonisches Lernen geht allerdings nicht im Praktikum auf (93). Unter den Konzepten konzentriert sich G. auf das sog. situated learning (nach Jean Lave und Etienne Wenger) also ein Lernen in und durch Teilhabe an einer bereits bestehenden Praxis.
Die Kapitel fünf und sechs (147–203) entfalten »Fragestellung und Erkenntnisinteresse« sowie »methodisches Vorgehen« der Studie: G. ist sowohl am »Lernerfolg« diakonischen Lernens als auch am »Lernkontext«, also an den förderlichen Rahmenbedingungen, interessiert. »Als zentrales Ziel diakonischen Lernens wird die Persönlichkeitsbildung der Lernenden angesehen«; sie »ereignet sich im Zuge der Förderung« von »Persönlichkeitsentwicklung, Soziale[r] Kompetenz, Theologische[r] Orientierung, Professionelle[r] Orientierung und Methodenkompetenz« (148).
Um den Erfolg des Diakonieprofils in Michelbach und seine Erfolgsfaktoren zu erheben, werden neben den Schülerinnen und Schülern Lehrende, (Praktikums-)Mentoren und Eltern in die empirische Untersuchung einbezogen. Die Schüler und Schülerinnen besuchen bzw. besuchten alle das dortige Schulzentrum und damit eine »diakonische Schule«, allerdings belegt bzw. belegte nur ein Drittel von ihnen das »Profilfach Religion/Diakonie« (167). Diese sog. »Diakoner« stellen die eigentliche Untersuchungsgruppe dar; die sog. »Nichtdiakoner« fungieren als Kontrollgruppe (171). Methodisch arbeitet G. mit schriftlichen Fragebögen (insgesamt 416 Datensätze) und Leitfadeninterviews (N = 41), dazu mit Dokumenten-Analysen; die Datenerhebung fand zwischen März 2005 und März 2006 statt (189); insofern ergibt sich ein multimodales und mehrperspektivisches Untersuchungsdesign (203).
Die Ergebnisse dieser Erhebungen mitsamt Einschätzungen kommen in den Kapiteln sieben und acht (205–542) zur Darstellung. Dies geschieht so, dass zunächst Schüleräußerungen zur eigenen »Persönlichkeit und [zum] Sozialverhalten« referiert werden, dann schriftliche und mündliche Aussagen von Lehrern, Mentoren und Schülern zu »Diakonie und diakonischem Lernen«, schließlich Praktikumsevaluationen. Zu den interessanten Befunden gehört, dass sich unter den Schül erinnen vor allem solche mit unterdurchschnittlichem Selbstwertgefühl für die Teilnahme am Diakonieprofil entscheiden, unter den männlichen Schülern hingegen vor allem solche mit überdurchschnittlichem Selbstwertgefühl (212–214). Was die Motivation zu helfendem Handeln angeht, so lassen sich vier Typen erkennen: Unter den sog. Diakonern finden sich vor allem Schüler, die an »Verpflichtung & Spaß« orientiert oder »christlich-religiös« zu verstehen sind, in der Kontrollgruppe hingegen überwiegen an »Anerkennung & Erfolg« orientierte Schüler und solche mit »stabiler Selbstakzeptanz« (329). Bemerkenswerterweise nehmen »Schüler kaum und auch Mentoren seltener auf den christlichen [!] Hintergrund von Diakonie Bezug« (398); allein den Fachlehrern, die das Fach »Diakonie« unterrichten, ist an der religiösen Dimension des Profils und der christlichen Begründung von Diakonie dezidiert gelegen. »Von einer besonderen Förderung der Empathie durch den Besuch des Diakonieunterrichts (einschließlich Praktika) ist nicht auszugehen«; vielmehr sind die Empathiewerte im Verlaufe der Praktika sogar rückläufig. Dies wiederum hat womöglich mit einer Normalisierung ihrer Einstellung zu behinderten Menschen und einer realistischeren Selbstsicht der Schüler zu tun – und ist insofern durchaus positiv zu bewerten (503 f.; vgl. 540). Damit soll es sein Bewenden haben – G. stellt die Befunde ungleich facettenreicher dar und bietet lediglich an einer Stelle eine grobe Zusammenfassung (539–542).
Das abschließende Kapitel 9 (543–587) sucht – bei aller Vorsicht vor Trugschlüssen vom Sein aufs Sollen – Konsequenzen zu ziehen: Betont wird der Facettenreichtum eines »Gesamtbegriffs ›Diakonie‹« (556), die Erklärungskraft des Konzepts des »situated learning« für das, »was beim diakonischen Lernen geschieht« (586), und die Wichtigkeit des Lernens in und aus der Praxis, vor allem durch Praktika (581), der Effekt diakonischen Lernens für die »Persönlichkeitsbildung« (569), nicht zuletzt die Notwendigkeit »differenziellen Lernens«. G. weist namentlich darauf hin, dass diakonisches Lernen nach Geschlecht und Motivationstypen differenziert werden müsse (570).
Den Zugriff auf zentrale Einsichten hätte man indes durchaus erleichtern können – durch deutlichere Gewichtungen in der Darstellung und prägnante Rückverweise; zu bedauern ist zudem, dass die Befunde nur schwer in Relation gesetzt werden können zu Ergebnissen anderer Untersuchungen zum diakonischen Lernen, die andere Settings fokussieren.
Die Untersuchung ist sorgfältig, ja, aufwändig gearbeitet und zeichnet ein detailreiches Bild, das – methodologisch betrachtet – überwiegend durch einfache Auszählungen und Deskriptionen entsteht, zum Teil allerdings auch komplexeren Berechnungen der Daten, etwa einer Faktorenanalyse, geschuldet ist. In der Sache wirkt die Lektüre einerseits ernüchternd: Selbst die sorgfältige und engagierte Profilierung diakonischen Lernens ist kein Garant für einen bestimmten Lernerfolg. Andererseits wird ebenso deutlich: Diakonisches Lernen ist wirksam, es tangiert in der Selbstwahrnehmung der Lernenden durchaus deren Persönlichkeit: »die Schwerpunkte der Förderung durch das Fach dürfen im pragmatischen und emotionalen Bereich gesehen werden« (541).
Für diese nüchterne, exemplarische Bestandsaufnahme zu einem unstreitig wichtigen Lernfeld ist G. zu danken.