Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/2009

Spalte:

931–934

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Pfister, Stefanie

Titel/Untertitel:

Messianische Juden in Deutschland. Eine historische und religionssoziologische Untersuchung.

Verlag:

Berlin-Münster: LIT 2008. 441 S. m. Abb. u. Tab. 8° = Dortmunder Beiträge zu Theologie und Religionspädagogik, 3. Kart. EUR 39,90. ISBN 978-3-8258-1290-4.

Rezensent:

Bernd Schröder

Diese von Rainer Riesner betreute Dissertation ist in zweifacher Hinsicht eine »Pilotstudie« – es handelt sich (wenn man einmal von Andreas Hornungs veröffentlichter Magisterarbeit von 1995 und der ins Deutsche übersetzten Studie von K. Kjaer-Hansen und O. Kvarme aus dem Jahr 1983 absieht) um die seit Langem erste deutschsprachige Monographie zum Thema und erstmals wird ihr Gegenstand, das sog. messianische Judentum, mit Hilfe empirischer Untersuchungsmethoden in den Blick genommen. Dank er­gän­zender historischer und internationaler Ausblicke vermag Pf., diese von ihr als »neue religiöse Bewegung« bezeichnete Strömung (25.311) facettenreich »zwischen Christentum und Judentum« (359) einzuordnen.

Pf. eröffnet ihre Studie (15–37; Kapitel 1 »Einleitung«) mit einer Skizze des Forschungsstandes, der in erster Linie Arbeiten zu Ju­denchristen in den USA und Israel präsentiert, darunter diejenigen von A. Fruchtenbaum und D. Cohn-Sherbock. Darüber hinaus um­reißt sie Methode und Aufbau ihrer eigenen Studie: Erhellt werden sollen »Ursachen« der Gemeindebildung, das kollektive Selbstverständnis sowie die individuellen Konversionserlebnisse messianischer Juden in Deutschland (25). Die erforderlichen Informationen erhebt Pf. nach einer Phase teilnehmender Beobachtung mit Hilfe teilstandardisierter Fragebögen unter Mitgliedern von 17 mes­sianisch-jüdischen Gemeinden bzw. Gruppen in Deutschland so­wie in narrativen Interviews, die sie nach den Regeln der »grounded theory« interpretiert (163–213; Kapitel 5 »Methodik der empirischen Erhebung«) – Pf. ordnet ihre Arbeit somit durchaus zu Recht dem Programm einer »empirischen [Praktischen] Theologie« ein (34 f.).

Der empirischen Beschreibung stellt sie einen geschichtlichen Überblick über die »Entwicklung des messianischen Judentums« (39–97; Kapitel 3) sowie die Entstehung messianisch-jüdischer Ge­meinden in Deutschland (99–162; Kapitel 4) voran. Im historischen Überblick unterscheidet sie begrifflich wie sachlich deutlich zwischen den »Judenchristen« der altkirchlichen Ära, den getauften Juden des 17. Jh.s, den »hebräischen Christen« des 19. und 20. Jh.s und schließlich – als jüngster, in den 1970er Jahren entstandener Bewegung – den messianischen Juden, die vergleichsweise deutlich ihre bleibend jüdische Identität unterstreichen und die Selbstbezeichnung als »Christen« meiden (74). In Deutschland speist sich diese Gruppierung ganz überwiegend aus dem Kreis der russisch-jüdischen Migranten – Pf. stellt die Gründer von Gemeinden, deren Entstehungsgeschichten und Programme eindrücklich vor Augen. Drei Befunde seien hervorgehoben. Erstens: Im Unterschied zum messianischen Judentum in den USA, das Pf. als zu 90 % charismatisch einstuft (76), ist in Deutschland nur etwa die Hälfte der insgesamt 39 messianisch-jüdischen Gemeinden und Gruppen charismatisch (159). Zweitens: Zum stärksten Träger hat sich der »Beit Sar Shalom Evangeliumsdienst (BSSE)« entwickelt, der 1996 von W. Pikman gegründet wurde und mittlerweile sogar über ein Ausbildungszentrum für Missionare verfügt (120 f.159). Drittens: Die messianisch-jüdischen Gemeinden werden zu etwa einem Drittel von Nicht-Juden besucht (224).

Was nun die »kollektiven Strukturen des messianisch-jüdischen Glaubens« angeht (215–314; Kapitel 6), so trägt Pf. eine Fülle interessanter Beobachtungen vor allem zur Liturgie, zum Glaubensbekenntnis, zur Gestaltung von Festen und Zeremonien zusammen. Inhaltlich stellt sie große Übereinstimmungen mit den Überzeugungen des evangelikalen Protestantismus fest, etwa die Verbalinspiration der Heiligen Schrift und eine Erlösungs-Verwerfungs-Dichotomie betreffend. In der Formensprache überwiegen demgegenüber die Anleihen an das Judentum – etwa bei den Riten des wöchentlichen Gottesdienstes am Sabbat oder denjenigen des Pessachfestes. In bemerkenswerter Weise zum Grenzfall werden Be­schneidung und Taufe. Die eine gilt als sinnvoll, aber nicht heilsnotwendig; die andere als unverzichtbare Abkehr vom sündigen Leben und bekennende Hinwendung zum Messias Jesus, die jedoch keineswegs eine Abkehr von jüdischer Identität beinhaltet (310 f.). Ergänzend zu Pf.s Beschreibungen erlauben die Texte im Anhang zu diesem Buch, darunter Glaubensbekenntnisse und Satzungen einzelner messianisch-jüdischer Gemeinden, dankenswerterweise eigene Beobachtungen an Theologie und Sprache messianischer Juden (379–398).

Während diese Merkmale in repräsentativer Weise beschrieben werden, erhebt Pf. »individuelle Strukturen des messianisch-jüdischen Glaubens« anhand dreier Fallbeispiele (315–358; Kapitel 6). Ihr besonderes Interesse gilt dabei dem Konversionserlebnis der Probanden. In inhaltlicher Hinsicht macht sie »die Erweiterung der Gottesvorstellung um den Glauben an Jesus als den Messias und um die Vorstellung des Heiligen Geistes« als »wichtigstes Merkmal aller Konversionserzählungen« aus; formal ein »Passiv-aktiv-passiv-ak­tiv-Konversionsschema«, also eine strukturierte Ab­­folge von Widerfahrnissen und selbsttätiger »Lebensübergabe« (356). Bemerkenswert ist, dass nicht wenige messianische Juden sich erst nach ihrer Konversion zum Glauben an Jesus als Messias ihren jüdischen Wurzeln zuwenden – sie finden sozusagen durch ihren Christusglauben zu einer jüdischen Identität.

In der abschließenden »Einordnung des messianischen Judentums zwischen Christentum und Judentum« (359–378; Kapitel 7) erfolgt zum einen eine – freilich noch recht tastende – christlich-theologische Einordnung: Messianische Juden »könnten« demnach »eine Brückenfunktion zwischen der [sc. christlichen] Ge­meinde und dem Volk Israel übernehmen« (364); die heidenchristlich bestimmten Kirchen, zumal deren evangelikale Flügel, sollten ihnen mit »Großzügigkeit« begegnen und sich für messianisch-jüdische Sichtweisen öffnen (366). Zum anderen reflektiert Pf. den Status der messianischen Juden im Rahmen des Judentums: De facto mangelt es ihnen hier in doppelter Weise an Anerkennung, insofern das orthodoxe Judentum sie durch die Taufe in eine andere Religion hinein gewechselt sieht und zudem vielfach schon die jüdische Herkunft der messianischen Juden in Zweifel zieht – demgegenüber plädiert Pf. dafür, sie als einen der sieben Zweige des Judentums anzuerkennen (373 f.).

Die Plädoyers dieses Schlussteils sind fraglos streitbar. Sie sind es, weil das Plädoyer für eine Anerkennung der messianischen Juden innerhalb des Judentums aus christlichem Munde lediglich eine – sicherlich ungebetene – Außensicht sein kann und weil die theologischen Anregungen nicht durchweg den empirischen Be­obachtungen entsprechen. So betont Pf. zwar zu Recht den Un­terschied zwischen den Judenchristen der neutestamentlichen/altkirchlichen Ära und den messianischen Juden heute, doch weist sie beiden dieselben Funktionen für die (heiden-)christliche Kirche zu, nämlich Zeuge zu sein für die bleibende Erwählung Israels. Ist nicht aber hier stärker zu veranschlagen, dass messianische Juden (anders als jene Judenchristen) eben keine Anerkennung innerhalb des Judentums genießen, dass sie häufig tatsächlich nicht den halachischen Kriterien des Judeseins entsprechen und sie ihre Konversion nicht selten heidenchristlicher Mission verdanken? Eindrücklicher als durch ihre Rubrizierung als »neue religiöse Bewegung« könnte diese Differenz kaum herausgestellt werden.

Solche Fragen verdienen eingehende Reflexion – es ist nicht das geringste Verdienst von Pf.s Studie, erneut nachdrücklich auf diesen Klärungsbedarf hinzuweisen. Vor allem aber hat sie für dieses Nachdenken durch ihre aufschlussreichen Daten, durch die – hier erstmals gebotenen – Dokumente und nicht zuletzt auch durch die Zusammenstellung einschlägiger Literatur (401–431) die notwendigen Grundlagen bereitgestellt. Darüber hinaus ist ihre Studie gut zu lesen; die zahlreichen Zusammenfassungen ermöglichen einen schnellen Zugriff, wobei der eigentliche Reichtum der Arbeit im Detail der Beobachtungen liegt. Kurz: eine bemerkenswerte, em­piriegestützte Erschließung eines Themas von hoher Relevanz für die christlich-jüdische Verständigung.