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Ausgabe:

März/2009

Spalte:

283-284

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Kuyt, Annelies u. Gerold Necker [Hrsg]

Titel/Untertitel:

Orient als Grenzbereich? Rabbinisches and außerrabbinisches Judentum.

Verlag:

Wiesbaden: Harrassowitz 2008. 283 S. m. Abb. u. Taf. 8° = Abhandlungen für die Kunde des Morgenlandes, 60. Kart. EUR 68,00. ISBN 978-3-447-05478-2.

Rezensent:

Catherine Hezser

Dieser Band vereinigt Beiträge, u. a. von Nachwuchswissenschaftlern, die im Jahre 2004 auf dem 29. Deutschen Orientalistentag der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft in der Sektion Judaistik vorgetragen wurden. Thematisch reicht dieser Band – wie auch die Judaistik selbst – über die klassischen Themen der philologisch orientierten Orientwissenschaften hinaus, indem er sich nicht nur mit antiken hebräischen Texten, sondern auch mit dem Judentum des Mittelalters und der Neuzeit beschäftigt. Die 16 Beiträge sind in vier Themenkomplexe gegliedert: I. Bibel und Exegese, II. Die Karäer – Geschichte einer Auseinandersetzung, III. Medizin, Historiographie und Mystik, IV. Die moderne Rezeption des Orients, wobei das Schwergewicht auf dem zweiten und vierten Teil liegt. In der Einleitung bemerken die Herausgeber, dass diese Themenvielfalt auf der Unterschiedlichkeit der Beiträge beim Orientalistentag beruht, bei dem aber das Panel »Die Karäer – Geschichte und Kultur« den Schwerpunkt bildete.
Im ersten Teil vergleicht Benjamin Ziemer die Abrahamtraditionen im Genesis-Apokryphon mit der biblischen Genesis-Überlieferung und arbeitet literargeschichtliche Abhängigkeitsverhältnisse heraus. Er argumentiert, dass die Abrahamtradition des Genesis-Apokryphons nicht der Rezeptionsgeschichte des Genesisbuches zuzurechnen ist, sondern frühere alternative Traditionen enthält, die der Kanonisierung der Tora wohl zeitlich vorausgingen. Um Abraham geht es auch im nächsten Beitrag von Anette Adelmann, die das Patriarchenbild des syrischen Kirchenvaters Aphrahat untersucht. Besonders interessant sind die Kontakte und Wechselbeziehungen zwischen jüdischen und christlichen Auslegungstraditionen im syrisch-mesopotamischen Raum, der das Bindeglied zwischen Ost und West bildete. Anschließend beschäftigt Andreas Lehnardt sich noch einmal mit dem Qaddishgebet und betont, dass der Text bis in gaonäische Zeit starke Veränderungen und Erweiterungen erfahren hat, was eine »späte, sukzessive Entstehung« nahelegt (63).
Der gesamte zweite Teil ist den Karäern gewidmet. Friedmann Eissler zeigt anhand des Shema Yisrael, dass die karäische Liturgie, entgegen der üblichen Meinung, durchaus logisch strukturiert und komponiert ist und mit rabbinischen liturgischen Texten verglichen werden kann. Gregor Schwab untersucht die Rezeption der islamischen Rechtshermeneutik im jüdischen kalam des 10. und 11. Jh.s. Die Karäer benutzten diese Hermeneutik als »integralen Bestandteil ihrer eigenen Theoriebildung« (90). In Matthias Morgensterns Beitrag geht es dagegen um die rabbinisch-karäischen Beziehungen im Konstantinopel des 15. und 16. Jh.s, die zeigen, dass die Karäer durchaus Interesse an der rabbinischen Tradition hatten und im »mainstream« des mittelalterlich-jüdischen Denkens anzusiedeln sind. Auch der von Stefan Schreiner vorgestellte Karäer Yehudah Gibbor war im Konstantinopel des 15. bis 16. Jh.s ansässig. Sein »Buch der Gebote« ist ein poetisches Exposé der Tora, das damals weit rezipiert wurde. Der letzte Beitrag dieses Teils, verfasst von Mikhail Kizilov, bringt uns nach Osteuropa und stellt die Karäergemeinde des Ortes Troki zwischen den beiden Weltkriegen vor.
Im dritten Teil sind Beiträge vereinigt, die den anderen Teilen thematisch nicht zuzuordnen waren: Martina Hussein stellt einen hebräischen medizinisch-botanischen Text des Mittelalters vor. Saskia Dönitz zeigt anhand des (Josephus rezipierenden) Sefer Yosippon, dass es im Mittelalter durchaus eine jüdische historiographische Tradition gab, die auf Grund jüdischer Migrationsbewegungen am Kulturtransfer zwischen Italien und Ashkenaz beteiligt war. Die Kabbalah des 16. Jh.s ist Thema des Beitrags von Annelies Kuyt, die die Verwendung des Zohar in R. Shlomo Almolis Traumbuch untersucht.
Die Aufsätze des vierten Teils beschäftigen sich alle mit Aspekten des neuzeitlichen Judentums und beleuchten die Wissenschaftsgeschichte. Gianfranco Milettos kurzer Beitrag führt ein in die Entwicklung der Hebraistik und Orientalistik im Wittenberg des 16. bis frühen 19. Jh.s. Peter Kuhn liefert eine Art Nachrede auf den vor einigen Jahren verstorbenen Orientalisten und Bibliothekar der Bayerischen Staatsbibiothek Hans Striedl. Besonders interessant ist Klaus Herrmanns detaillierte Untersuchung zum Islambild im Reformjudentum des 19. und 20. Jh.s. Dem teilweise in Klischees­ der Zeit verfangenen Islambild traten jüdische Islamwissenschaftler wie Ignaz Goldziher entgegen, die die Entstehung der Islamwissenschaft entscheidend prägten. Im vorletzten Beitrag von Björn Siegel geht es um das Wirken der Alliance Israelite Universelle in Äthiopien und das »Entdecken« der Beta Israel, während Gregor Pelger im letzten Artikel das Orientbild des heute in Vergessenheit geratenen Philologen und Orientalisten Emanuel Deutsch untersucht.
Insgesamt sind die Beiträge dieses Bandes alle von fundierter wissenschaftlicher Qualität, obwohl es natürlich auch hier wie bei allen Konferenzbänden Unterschiede im Hinblick auf die Ausführlichkeit der Untersuchung, die Neuheit der Thematik und die Allgemeinverständlichkeit gibt. Einige der Beiträge sind sehr speziellen Themen gewidmet und dürften vor allem Fachgelehrte ansprechen. Andere, wie etwa Klaus Herrmanns Artikel zum Islambild des Reformjudentums, werden ein weiteres Lesepublikum interessieren.