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Ausgabe:

Juni/2023

Spalte:

571-573

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Robinson, Maurice A., Pierpont, William G., and John Jeffrey Dodson [Eds.]

Titel/Untertitel:

The New Testament in the Original Greek. Byzantine Textform 2018.

Verlag:

Nürnberg: VTR 2018. X, 630 S. Kart. EUR 19,95. ISBN 9783957761002.

Rezensent:

Wolfgang Reinbold

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Die Heilige Schrift – Die Bibel. Nach der Benjamin Fotteler- Übersetzung (FBÜ). Karlsruhe: Jeremia-Verlag 2022. 1312 S. Lw. EUR 49,00. ISBN 9783944834528.


Die zu rezensierenden Bücher fallen aus dem Rahmen der üblicherweise in dieser Zeitschrift besprochenen Werke. Es handelt sich 1) um eine neue Übersetzung der Bibel ins Deutsche und 2) um den dieser Übersetzung zugrundeliegenden griechischen Text des Neuen Testaments.

1) Die neue Bibelübersetzung stammt von Benjamin Fotteler. Der 1984 geborene Autor ist nach eigenen Angaben ein freiberuflicher Software-Engineer und Schriftsteller. Er hat sich vor einigen Jahren autodidaktisch Griechisch beigebracht, weil er bei der Lektüre der üblichen Bibelausgaben »die Verderbtheit des Nestle-Aland erkannte« sowie »die Überlegenheit des Byzantinischen Textes gegenüber dem Textus Receptus« (https://jeremia-verlag.com/wp-content/uploads/2022/05/Wie-es-zur-FBUe-kam.pdf). Daher nahm er die griechische Ausgabe von Robinson/Pierpont als Grundlage für das Neue Testament. Sie weise »keine nachweislichen Fehler oder Widersprüche« auf und sei dem Text von Nestle-Aland (Novum Testamentum Graece [Hg. Barbara Aland u. a.], Stuttgart 282017) überlegen (Fotteler, Vorwort [o.S.]). Im Alten Tes-tament legt der Autor die Septuaginta zugrunde, und zwar nach einer eigenen »Rekonstruktion auf Basis des Textzeugen-Apparates aus Vetus Testamentum Graecum cum variis Lectionibus von Holmes und Parsons« (Vetus Testamentum Graecum cum variis lectionibus [Hg. Robert Holmes/James Parsons], Oxford 1798–1827). Die neueren, kritischen Ausgaben der Septuaginta (Rahlfs, Göttinger Septuaginta) werden abgelehnt, weil sie »dieselben Mängel wie der Nestle-Aland-Text« aufwiesen. Verlegt hat den Band der 2020 gegründete »Jeremia-Verlag« in Karlsruhe, der sich als Verlag für »bibeltreue christliche Bücher« versteht. Über die Homepage des Autors ist das Buch auch kostenlos zum download erhältlich (fb-bibel.de).

2) Die Rekonstruktion des griechischen Neuen Testaments in der »byzantinischen Textform« wurde von dem evangelischen Theologen Maurice A. Robinson (*1947, zuletzt Professor für Neues Testament und Griechisch am Southeastern Baptist Theological Seminary in Wake Forest, North Carolina, USA) und dem Ingenieur William G. Pierpont (1915–2003) zum ersten Mal im Jahr 1991 vorgelegt (Maurice A. Robinson/William G. Pierpont [Hg.], The New Testament according to the Byzantine/Majority Textform, Atlanta 1991). 2005 folgte eine zweite, revidierte Ausgabe (Maurice A. Robinson/William G. Pierpont [Hg.], The New Testament in the original Greek. Byzantine textform 2005, Southborough 2005), die im Internet kostenlos zum Download erhältlich ist. Die vorliegende Ausgabe ist ein preiswerter Nachdruck der 2005er Edition. Verlegt hat sie der Verlag für Theologie und Religionswissenschaft in Nürnberg.

Die Grundthese von Robinson/Pierpont ist: Anders als der Hauptstrom der internationalen Bibelwissenschaft, das Institut für Neutestamentliche Textforschung an der Universität Münster und die meisten Bibelgesellschaften meinen, sei der Text des Novum Testamentum Graece nach Nestle-Aland bzw. die diesen weiterführende, mit großem wissenschaftlichen Aufwand erstellte »Editio critica maior« (Novum Testamentum Graecum. Editio critica maior, hg. vom Institut für Neutestamentliche Textforschung, Stuttgart 1997–?) keineswegs eine zuverlässige und gute Edition. Sie basiere vielmehr auf zwei fundamentalen Fehleinschätzungen. Erstens überschätze sie die Bedeutung des alexandrinischen Texts, der in Wirklichkeit »an early localized recensional attempt to purge and purify the alterations and accretions found among the Western manuscripts« sei (2005, III). Zweitens basiere sie auf einem methodisch höchst fragwürdigen, durch und durch eklektischen Verfahren, bei dem am Ende ein Text herauskomme, den es in Wahrheit nie gegeben habe: »This modern eclectic process of subjective textual determination on a pervariant basis results in a textual patchwork that within numerous verses finds no support among any extant document« (2005, IV). Demgegenüber werde die byzantinische Textform bzw. der sogenannte »Mehrheitstext« vom Institut für Neutestamentliche Textforschung und vielen anderen zu Unrecht geringgeschätzt. Tatsächlich sei diesem Text, der von einer überwältigenden Zahl von Handschriften mit fast gleichlautendem Wortlaut überliefert werde, der Vorzug zu geben. Auch wenn er in den Handschriften erst spät bezeugt sei, sei er es, der dem Original der neutestamentlichen Texte am nächsten komme, ja entspreche. Dieser Text sei das Wort Gottes, in griechischer Sprache: »The present edition therefore displays that dominant consensus text as it appears throughout the Greek New Testament. This Byzantine Textform volume is offered as an accurate representa-tion of the New Testament canonical text, the written word of God according to the original Greek« (2005, I).

In der Bibelwissenschaft wird die Robinson/Pierpont-Edition in der Regel kaum zur Kenntnis genommen. Aus Sicht der textkritischen Spezialisten sind ihre Mängel so offenkundig, dass sich eine ernsthafte Beschäftigung mit ihr erübrigt.

Einer der wenigen, die sich näher mit der »Majority Text Theory« auseinandergesetzt haben, ist Daniel B. Wallace. Er hat die Argumente gegen die Theorie wie folgt zusammengefasst:

1) Sie basiert auf einem methodisch unzulässigen theologischen A priori, nämlich der Behauptung ihrer Befürworter, dass Gott den heiligen Text der – per definitionem – irrtumslosen heiligen Schrift bewahrt haben müsse: »their doctrinal basis is largely founded on what they think God must have done« (Daniel B. Wallace, The Majority Text Theory. History, Methods, and Critique, in: Bart D. Ehrman; Michael W. Holmes [Hg.], The text of the New Testament in contemporary research. Essays on the Status Quaestionis, Leiden 22013, 711–744: 727).

2) Nach Ausweis der bekannten Handschriften ist der byzantinische Text ein später Text. Die Behauptung, es habe ihn in genau dieser Form schon im (1.), 2., 3. und 4. Jh. gegeben, ist aus der Luft gegriffen. »There is simply no solid evidence that the Byzantine text type existed prior to the fourth century« (Wallace, ebd. 734).

3) Die Kritik der Anhänger der »Majority Text Theory« (MT) an der vorgeblich durch und durch subjektiven und tendenziösen Handhabung der Kriterien der internen Evidenz durch Nestle-Aland usw. schießt weit über das Ziel hinaus. Gewiss sind Kriterien wie lectio brevior potior nicht zu einhundert Prozent »objektiv«. Aber keine Textkritik kommt ohne solche Kriterien aus, auch die des byzantinischen Textes nicht. Darüber hinaus sind auch die externen Kriterien keineswegs zu einhundert Prozent »objektiv« – wir sind nun einmal Menschen, nicht Gott. »In sum, the MT theory’s tenet that internal criteria are wholly subjective not only makes unwarranted assumptions about the objectivity of external evidence but also backfires in those places where there is no majority« (Wallace, ebd. 737).

In starkem Kontrast zu dieser Einschätzung steht die Hochschätzung der Theorie in einigen evangelikalen Milieus. Für Fotteler und viele andere steht fest: »Da die Prophetien der Bibel kein Zufallsprodukt aus Menschenhand sein können, muss die Bibel göttlich inspiriert und somit ursprünglich fehlerlos sein«, wie es der Text von Robinson/Pierpont sei. Nestle-Aland sei demgegenüber ein bewusst falscher, ja im Grunde gefälschter Text, »ein bibelkritischer Kunstgriff, um die Vertrauenswürdigkeit der Heiligen Bibel zu untergraben«. Letztlich gehe es, so Fotteler, dabei um den Kampf zwischen den »Kindern des Ungehorsams«, in denen »der Geist des Bösen wirksam« sei, und den »Kindern Gottes«, in denen der Geist Christi wirksam sei. Eben deshalb dürfe man als Christ auch keinesfalls auf den Masoretischen Text zurückgreifen. »Den Masoretischen Text haben pharisäische Juden überliefert, die den Heiland Jesus Christus verleugnet und verachtet haben« (Vorwort [o.S.]). »Nicht ohne Grund beklagten frühen [sic] Christen wie Justin der Märtyrer, dass die verstockten Pharisäer die Bibel verfälschen würden.« Eben deshalb werde »durch den masoretischen Text vernebelt […], dass die verstockten Juden den Gottessohn und seine Kinder, die Christen, ermordet haben« (Anhang, 13 f.). »Die verstockten Pharisäer haben die Christen verfolgt und waren keine Juden, sondern eine Synagoge des Satans. Deshalb stellt sich die Frage, warum wir ihre Bibelfassung wählen sollten, warum wir ihnen vertrauen sollten?« (ebd. 93) – Ich breche ab. In den zu rezensierenden Publikationen zeigen sich zwei beunruhigende Tendenzen, die die theologische Wissenschaft m. E. in den Blick nehmen sollte.

1) Die Grenzen zu rechtspopulistischen und rechtsradikalen Positionen verschwimmen in einigen evangelikalen Kreisen mehr und mehr. Christen stehen auf der Seite des Lichts, Juden auf der Seite des Satans – es ist irritierend zu sehen, wie leicht Fotteler Sätze wie diese aus der Feder fließen. Auch der »bibeltreue« Verlag hat offenbar kein Problem damit, derartigen antijüdischen Unfug zu drucken – vermutlich in bester Absicht und ad maiorem Dei gloriam.

2) Die Ablehnung des in allen großen deutschen (und internationalen) Bibelübersetzungen zugrunde gelegten Texts von Nestle-Aland scheint in einigen evangelikalen Kreisen inzwischen Konsens zu sein. Dem sollte sich die neutestamentliche Wissenschaft m.E. entgegenstellen und die Debatte nicht länger (so gut wie) ignorieren. Anderenfalls besteht die Gefahr, dass bald nicht mehr nur die Interpretation des neutestamentlichen Texts strittig ist, sondern bereits die Frage, was das denn überhaupt sei, der »Text des Neuen Testaments«. Um es in Anlehnung an die berühmten Worte der ehemaligen Pressesprecherin des ehemaligen US-amerikanischen Präsidenten zu formulieren: Die Einen hätten dann einen »text« und die Anderen einen »alternative text«.