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Ausgabe:

April/2020

Spalte:

337–338

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Auer, Alfons

Titel/Untertitel:

Autonome Moral und christlicher Glaube. Mit einem Nachtrag zur Rezeption der Autonomievorstellung in der katholisch-theologischen Ethik von 1984 u. m. e. einleitenden Essay v. D. Mieth.

Verlag:

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2016. 278 S. Geb. EUR 59,95. ISBN 978-3-534-26819-1.

Rezensent:

Thomas Bohrmann

Auf dem II. Vatikanischen Konzil (1962–1965) suchte die katholische Kirche einen Weg, wie sie mit der modernen Welt in einen Dialog treten und entsprechend eine adäquate Antwort auf die »Zeichen der Zeit« finden könnte. Nach dem Konzil kam es in den unterschiedlichen Disziplinen der wissenschaftlichen Theologie zu zahlreichen neuen Überlegungen, Denkansätzen und Interpretationen der christlichen Offenbarungsbotschaft. Im Jahre 1971 veröffentlichte Alfons Auer (1915–2005), der von 1966 bis 1981 die Professur für Moraltheologie an der Universität Tübingen innehatte, das programmatische Buch »Autonome Moral und christlicher Glaube«, das auf eine Erneuerung der Ethik innerhalb der katholischen Theologie zielte. Es ist der Verdienst der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft und ihrer Vereinsmitglieder, dass das lang vergriffene Buch jetzt in einem unveränderten Nachdruck der 2. Auflage aus dem Jahre 1984 vorliegt.
A.s Veröffentlichung löste eine engagierte theologische Debatte über den Autonomiebegriff in der nachkonziliaren Moraltheologie aus, die er in dem Epilog zur 2. Auflage nachzeichnete. Bei dieser Kontroverse standen sich zwei Argumentationsmodelle gegenüber: die autonome Moral und die Glaubensethik. Dabei wurde die Frage diskutiert, wie das Verhältnis von ethischem Handeln und Glaube zu definieren sei bzw. welche Bedeutung die Autonomie und die Theonomie jeweils für das Sittliche haben. Während Vertreter der Glaubensethik die unverzichtbare Notwendigkeit der göttlichen Offenbarung für das sittliche Handeln betonten, plädierte A. für die menschliche Vernunft als zentrale Instanz des Handelns und somit für die Eigenständigkeit und Autonomie des Sittlichen.
A. entfaltet seine Überlegungen anhand von drei Thesen, die sein Buch in drei große Kapitel untergliedern. Dabei gebraucht er jeweils den zentralen Begriff des »Weltethos«, um die menschlichen Moralvorstellungen zum Ausdruck zu bringen. Das erste Kapitel (»Weltethos als das Ja zur Wirklichkeit«: die ethische These) bietet eine anthropologische Grundlegung und die damit verbundene sittliche Verfasstheit des Menschen als moralisches Subjekt. Im Rückgriff auf die philosophische Ethik Kants formuliert A.: »Das sittliche Handeln kommt aus der Mitte der personalen Existenz, aus dem Kern des Menschen und zielt auf die freie Selbstentfaltung eigener und mitmenschlicher Würde.« (25) Aufgrund der menschlichen Konstitution folgert er die Rationalität des Sittlichen und die Realistik des Sittlichen. Im zweiten Kapitel (»Weltethos in der Heiligen Schrift«: die theologische These) setzt sich A. mit den ethischen Grundlagen auseinander, wie sie im Alten (z. B. Dekalog) und Neuen Testament (z. B. Bergpredigt) überliefert worden sind. Vor dem Hintergrund der bibelwissenschaftlichen Befunde stellt er heraus, dass sich das biblische Ethos im Großen und Ganzen nicht unterscheidet von den sittlichen Weisungen, die außerhalb der damaligen biblischen Welt galten. Allerdings wird das außerbiblisch vorgefundene Ethos religiös integriert und innerhalb eines entsprechenden neuen religiösen Sinnhorizontes, verbunden mit der Selbstmitteilung Gottes, verortet. Für das konkrete sittliche Handeln des Christen ergeben sich aus dem Evangelium spezifische Grundhaltungen und Motivationen, wie z. B. Glaube, Hoffnung, Liebe, Dankbarkeit, Wachsamkeit. Im dritten Kapitel (»Weltethos in der lehramtlichen Praxis und in der moraltheologischen Reflexion«: die Lehramtsthese) widmet sich A. einer differenzierten Bewertung der kirchlichen Kompetenz im Hinblick auf die konkrete Sittlichkeit des Menschen im Sinne material-ethischer Orientierungen. Hier schreibt A. dem Lehramt drei Funktionen zu, eine integrierende, stimulierende und kritisierende. Insgesamt macht A. deutlich, dass seine Gedanken einen rezeptionsgeschichtlichen Hintergrund haben, denn im Kern sind seine Vorstellungen zur Autonomie z. B. in der Schöpfungsgeschichte (der Mensch als imago dei), bei Paulus (Röm 2,14), bei Thomas von Aquin (der Mensch als freies und vernünftiges Wesen) und bei einzelnen Vertretern der Moraltheologie des 18. und 19. Jh.s (Sebastian Mutschelle, Franz Xaver Linsenmann) bereits enthalten. Indem sich A. für ein Autonomie-Modell in der theologischen Ethik stark macht, verdeutlicht er auch die Anschlussfähigkeit der Theologie an die säkulare Wissenschaft, die ja gerade in ethischen Fragen ohne die religiöse Dimension auftritt. So plädiert A. eindrücklich für den Dialog besonders mit den Human- und Sozialwissenschaften, um die Sachgesetzlichkeiten ethischer Probleme zu durchdringen. »Die Ethik ist auf die ständige Kooperation mit den empirischen Wissenschaften und den philosophischen Deutungen des menschlichen Daseinssinnes verwiesen.« (212) Nur mit einem Modell der Autonomie des Sittlichen ist eine solche Kommunikabilität in der Welt von heute möglich.
Was die Neuherausgabe besonders auszeichnet, ist der einleitende Essay von Dietmar Mieth (von 1981 bis 2008 Professor für Theologische Ethik unter besonderer Berücksichtigung der Gesellschaftswissenschaften an der Universität Tübingen) – einem Schüler von A. –, der biographische Notizen, die Diskussion um das Autonomiekonzept, besonders auch mit der Zitation von aktueller Literatur, und die wissenschaftliche Bedeutung von A. für die Mo­raltheologie zur Sprache bringt. Mit diesem programmatischen Klassiker wird gegenwärtigen Theologinnen und Theologen die Möglichkeit gegeben, die Grundlagen einer spannenden Debatte innerhalb der Ethik nachzulesen, die in der nachkonziliaren Zeit die Theologie bewegt hat und nach wie vor beschäftigt. Dabei lohnt die erneute Lektüre dieses moraltheologischen Grundlagenwerkes aber nicht allein aus theologiegeschichtlichen Gründen. Auch heute, fast 50 Jahre nach Erscheinen der Erstauflage, bietet A.s Buch instruktive Überlegungen, die auch Antworten für die gegenwärtige Moral-Diskussion innerhalb der katholischen Kirche geben können. In diesem Sinne ist A.s Schlussbemerkung zuzustimmen. Denn das Autonomie-Modell könnte »einen wichtigen Beitrag leis-ten, dass die Kirche auch für den heutigen Menschen intellektuell und ethisch wieder leichter bewohnbar wird« (239).