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Ausgabe:

1995

Spalte:

132-133

Kategorie:

Altes Testament

Titel/Untertitel:

Voices from Amsterdam 1995

Rezensent:

Seebass, Horst

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Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 2

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nen und einem sich durchhaltenden Sprach-, Vorstellungs- und
Traditionskomplex bei Jesaja rechnen sollte. Daß der Vf. seine
Auffassung am jeweiligen Text in der Regel nur kurz begründet
, liegt an der Eigenart der Kommentarreihe. Daß die jesajani-
sche Herkunft einiger Texte (u.a. 9,1-6; 11,1-5) gar nicht mehr
diskutiert wird, ist allerdings bedauerlich.

Die Entstehung von Jes 1-39 beschreibt der Vf. als einen langen
und komplizierten Prozeß redaktioneller Fortschreibung.
Dabei lassen sich mehrere übergreifende Schichten feststellen.
In Kap. 11; 13f*; 24-27; 34 konstatiert der Vf. eine Schicht, die
ein umfassendes Völkergericht erwartet. „Diese redaktionelle
Schicht ist von III Jes kaum abzulösen, setzt also das Gesamtbuch
(annähernd?) voraus." (19) Möglicherweise besteht das
Stratum aber aus zwei Schichten: einer, die die Heimkehr der
Israeliten nach dem Weltgericht ansagt (A), und einer älteren
(B), die dieses Gericht ohne die Rückkehrerwartung darstellt.
Eine noch ältere Schicht (C) enthält den Aspekt der Naherwartung
des Gerichts über die Völker (noch nicht: über die Welt),
spart aber den Zion aus. Dazu gehören: 10,24-26 (25); 26,20f;
29,I7(ff); 33,10f(f). Wiederum älter ist Schicht (D), die eine
Völker-Assur-Redaktion erkennen läßt (8,9f; 14,24-27; 17,12-
14; 29,4b-8; 30,27-33; 31,5-9*). Eine noch ältere Schicht (E)
läßt eine erste antiassyrische Wende sichtbar werden: 10,5-
15.16-19; 10,27, evtl. auch der Kern von I4,24f. In die Nähe
dieser Schicht gehört wohl auch der Grundbestand von Jes 36-
39. Die älteste Schicht F (evtl. nicht einheitlich) enthält Unheilsworte
und Weherufe gegen Israel und Juda, die auf den
Propheten Jesaja zurückgehen dürften, u.a. 5 + 9,7-10,4*; 6; 8;
28,lff; 29,l-4a; 29,15(0; 30,1-5*; 31.1-3*; 33,11. Partielle
redaktionelle Intentionen erkennt der Vf. in Kap. 7-9 (eine
historisierende Schicht) und in Kap. 24-27 (die apokalyptisie-
renden Motive). Der Vf. betont selbst, daß seine Überlegungen
„nur sehr groben Wert" hätten (19) und „spekulativ" seien (20).
Das sollte der Benutzer des Kommentars beachten. In der Kommentierung
selbst spielten die Schichtenzuweisungen keine
Rolle, wohl aber die ihnen zugrundeliegenden Beobachtungen.
Den „Einfluß der deuteronomistischen Theologie", den O. Kaiser
' konstatiert hat, bestätigt dieser Kommentar jedenfalls
nicht. Die Schichten E und F, also die ältesten, datiert H. in das
7. Jh.v.Chr., Schicht B in die Zeit Haggais und Sacharjas.

Die Verkündigung Jesajas war Unheilsbotschaft. Heilsworte,
Aufforderungen zur Umkehr, aber auch Gerichstworte gegen
Assur und überhaupt Passagen, die die Zionstheologie positiv
aufnehmen, gehören zur Nacharbeit. Aus den ältesten Texten
ergibt sich für Jesaja „das Bild eines Kritikers von Verhaltensweisen
seiner Zeilgenossen..." (22). Hinzu kommt die „Kritik an
politischen Verhaltensmustern..." (22), die sich besonders in brisanten
Situationen äußerte: im sog. syrisch-ephraimitischen
Krieg (734-732), beim Untergang Samarias (722), anläßlich der
Wirren um die Stadt Aschdod (713-711) und beim Einmarsch
Sanheribs in Palästina (701). Jesaja kündigt den Hörern ein „kollektiv
zu erleidendes Geschick" (24) an; erst spätere Schichten
differenzieren unter denjenigen, die das Gericht erfahren.

Als Beispiel für die literarkritischen Ergebnisse möge Kap. I
dienen. H. erkennt darin zwei Wachstumsphasen: V. 2-20 und
21-31.1,2t", wohl unjesajanisch, bildet die Einleitung zur Sammlung
des 1. Kapitels. 1,4-9 besitzt einen - ursprünglich wohl
mündlichen - Kern in V. 4*. 5f*. Er wurde bearbeitet und ausgestaltet
durch 4a.5b.6a. V.7 erklärt dann das Bild von 51* und
wird seinerseits durch V.8 ausgemalt, wo der Zion als Restgröße
eingeführt wird. V.9 schließt den Text als gottesdienstliches
Responsorium ab. Weder V.7 noch V.8 beziehen sich auf
die Situation 701. Das alles wirkt nicht sehr wahrscheinlich. In
1,10-20 bilden 11.14-15* den Grundbestand. Er wurde durch
12f (Vereindeutigung der Kultkritik) sowie 15 Ende und 16t"
(ethische Alternative) überarbeitet und schließlich durch V. 18-
20 fortgeschrieben. Für 1,21-31 stellt sich die Entwicklung wie

folgt dar: Am Anfang stand eine Klage (21f), die dann sekundär
zu einem Scheltwort für das angefügte Drohwort umfunktioniert
wurde (21-26). Da sich „zu einer solchen Geschichtsschau
bei Jesaja keine Pendants finden und überdies die Namenge-
bung für Jerusalem als Heilsstadt einem (nach-)exilischen Interesse
folgt" (45), kann der Text (evtl. abgesehen von der ursprünglichen
Klage) nicht jesajanisch sein. An diesem Urteil
wie an seiner Begründung muß man dicke Fragezeichen anbringen
. Die Verse 27-31 sind uneinheitliche Ergänzungen. Da die
letzten Worte von V.3I auf 66,24 vorgreifen, bildet Kap. I die
Einleitung für das Gesamtbuch.

Aus der übrigen Kommentierung seien nur Einzelheiten herausgegriffen
. Von der Denkschrift-Hypothese hält der Vf. nichts.
Kap. 6 beurteilt er nicht als Berufungs-, sondern als Sendungsbericht
, der eine Fortsetzung erfordert. Sie liege allerdings nicht in
Kap. 7, sondern in Kap. 8 vor. Mit dem Inhalt von 8,1-4 läßt sich
das nicht leicht vereinbaren. Den Verstockungsauftrag in Kap. 6
erklärt H. als eine recht späte Deutung durch Jesaja selbst. Daß
6,12f Anhänge an den Bericht bilden, ist gut begründbar, daß
V.10 aber eine sekundäre Radikalisierung darstellen soll, wirkt
überraschend. Ebensowenig überzeugt die Erklärung von 7,9b
(„Glaubt ihr nicht, so bleibt ihr nicht!") als Anhang. Reicht der
Numeruswechsel wirklich aus. um dieses Urteil zu begründen?
In 7,10-17 beurteilt H. V.15, den Relativsatz in V.16 und 17b als
sekundär und erhält so einen glatten Unheilszusammenhang. In
Bezug auf 16* muß man fragen, ob nicht eine zweigipflige Aussage
wahrscheinlicher ist: Jahwe hält an seiner Unheilsplanung
gegen die Koalition fest (16). erweitert das Gericht wegen der
Vertrauensverweigerung aber nun auf Juda (17a).

Zu Kap. 24-27 lehnt H. den Begriff „Jesaja-Apokalypse" ab.
„Denn wenn auch apokalyptische Motive vorkommen, so fehlen
doch literarische Merkmale von Apokalyptik." (176) Eine
Grundschicht von 24-27 soll ursprünglich die Völkerspruch-
sammlung Jes 13ff gerahmt haben. Aus 28,14-22 eruiert H. als
Grundbestand V.14f.l7f; das Eckstein-Wort V.16 ist nicht ursprünglich
. Im Anhang Kap. 36-39 erkennt H. an mehreren Stellen
Polemik gegen Jeremia und folgt darin im wesentlichen den
Beobachtungen von C. Hardmeier.-

Der Schwerpunkt des Kommentars liegt offenbar auf der
Nacharbeit an den Jesaja-Überlieferungen. Demgegenüber
kommt die Heraushebung der ältesten Jesaja-Tradition m.E. zu
kurz. Es ist zwar nicht der Schatten einer Legendengestalt, der
hier übrigbleibt, aber doch ein sehr geminderter Prophet. Ob die
Texte eine derartige Reduktion tragen und ob sie eine solch diffizile
literarkritische und redaktionsgeschichtliche Zergliederung
erfordern, wie hier vorgeführt, das wird mit dem Vf. zu
diskutieren sein.

Bochum Wmlried Thiel

1 O. Kaiser. Das Buch des Propheten Jesaja Kapitel 1-12 (ATD 17). Göttinnen
51981. 20. vgl. 42 u.a.

- C. Hardmeier. Prophetie im Streit vor dem Untergang Judas IBZAW
187). Berlin-New York 1990.

Kessler, Martin: Voices from Amsterdam. A Modern Tradition
of Reading Biblical Narralive, selected, transl. and ed. Atlanta.
GA: Scholars Press 1994. XXIV, 168 S. 8« = SBL. Semeia
Studies. Kart. $44.95. ISBN 1-55540-896-6.

Dies Büchlein von XXIV + 168 S. stellt den Versuch von M.
Kessler dar, die sog. Amsterdamer Schule, die im wesentlichen
Holländisch publiziert, einem breiteren, englischsprachigen
Publikum vertraut zu machen. Da nur ein Beitrag für diesen
Band verfaßt ist (Deurloo, The Way of Abraham 95-112). bedarf
die Publikation keiner ausführlichen Besprechung.