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Ausgabe:

1995

Spalte:

1107-1109

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Grabner-Haider, Anton

Titel/Untertitel:

Kritische Anthropologie 1995

Rezensent:

Frey, Christofer

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I 107

Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 12

II0S

Theologen Barth... war der Staat besser aufgehoben als bei dem
Staatsrechtler Schmitt, der die Theologie als eine staatszerstörende
Kraft betrachtet hat." (277) Das ist das letzte Wort dieser
Abhandlung.

Haan-Gruiten bei Wuppertal Jürgen Fangmeier

Grabner-Haider, Anton: Kritische Anthropologie. Würzburg
: Echter; Altenberge: Oros 1993. VI, 371 S. 8» = Religionswissenschaftliche
Studien, 29. Kart. DM 64,80. ISBN 3-
429-01523-5 u. 3-89375-082-7.

Der in Graz für Religionsphilosophie habilitierte Autor legt
nach verschiedenen anderen Studien nun sein Manifest einer
„kritischen" Anthropologie vor, die im Grunde ein Programm
einer minimalen rationalen Religiosität sein soll. Um es vorwegzusagen
: Es lohnt nicht, sich mit diesem Buch zu befassen.
Seine These wird bereits im Vorwort mitgeteilt: „Die gesicherten
Ergebnisse der Humanwissenschaften zwingen alle Religionen
und Glaubenssysteme zu tiefgreifenden Lernvorgängen
(Hervorhebung des Autors). Diese sind auch im christlichen
Menschenbild möglich, sind doch die Kriterien dieser Lernvorgänge
zumindest partiell auch durch die christliche Kultur mitgeprägt
worden: authentisches Leben, humane Daseinsgestaltung
, offene und gleichwertige Kommunikation, positives
Selbstbild und Fremdbild, kritisches und autonomes Denken,
Fähigkeit zur Empathie u.a. Der christliche Glaube muß sich
mit einer gewissen Dringlichkeit dieser authentischen Werte
besinnen, gleichzeitig muß er sich bewußt und offiziell von
allem trennen, was diesen Werten entgegensteht. Das bedeutet,
daß die Bibel und alle anderen Glaubenszeugnisse selektiv gelesen
werden müssen, nach den genannten Kriterien." Dieses Ideal
wird in allen Kapiteln des Buches ziemlich monoton wiederholt
. Fast alle Kapitel behaupten, daß das Christentum diesem
Ideal fern stehe, während das vom Vf. vorgeschlagene alternative
Menschenbild der Toleranz (311) wenigstens marginal im
frühen Christentum gegeben sei. Also muß der „ideologiekritische
Diskurs" (317) das Marginale im Christentum zum Zentrum
machen. Glücklicherweise scheint die Lebenseinstellung
Jesu (57) der bereits in der Antike proklamierten Lebenseinstellung
der Lust entgegenzukommen. Statt archaischer Riten der
Reinigung habe Jesus ethische Zielwerte gesucht (117) und
erscheine damit als Vorläufer einer modernen körperbetonten
und lustorientierten Autonomie (die selbst Kant noch nicht voll
erreichte, 298).

Um diese ideale Vorstellung vom Menschen herauszustellen,
muß der Vf. ständig den von ihm behandelten Positionen ihre
Defizite bescheinigen. Wie ein cantus firmus durchzieht der Vorwurf
der Weltflucht, der Körperfeindlichkeit, der Schuldkultur,
des Fanatismus, der autoritären Persönlichkeit, der rigiden Män-
nerkultur, der Angst vor der Sexualität der Frauen und dgl. das
Buch. Damit bildet sich ein monotoner Stil heraus. Besonders
hart wird mit Paulus umgegangen, der fast zum Urheber aller
Schuldkultur wird (136 ff.). Aber auch die spiritualistische
Lebensdeutung des Johannes produziere ein destruktives Menschenbild
(147). Der Gnosis werden mildernde Umstände zugebilligt
, wenn sie eine ähnliche Haltung annimmt; sie liegen vor
allem in der sozialen Lage ihrer Anhänger (162). Die zölibatäre
und asketische Lebenskultur der Priester sei der Grundschaden
der katholischen Kirche. Glaube werde zum Fanatismus und
berufe sich auf das ius talionis (258). Fühlte sich der protestantische
Leser bis dahin noch einigermaßen vom Autor verschont, so
muß er erfahren, daß Luther seine Angst von Augustinus und
Paulus bezog (266) und deshalb fanatische und widersprüchliche
Lehre produzierte (267). Zuviel Gnade mache den Menschen
defizitär; die größeren Korrekturen warteten auf die evangelischen
Christen (345). Ein Katalog dieser Anschuldigungen ließe
sich fast unbeschränkt fortsetzen.

Seine Nachweise möchte der Autor durch einen gewaltigen
Abriß von der menschlichen Vorgeschichte bis in die Gegenwart
führen. Deshalb beginnt er mit archaischen Menschenbildern (11
ff.). Hier scheint ihn die Grausamkeit der Menschenopfer weniger
zu berühren, weil er Spuren einer matriarchalen Kultur entdecken
kann. Schlimmer wird es auf „semitisch-jüdischem Hintergrund
" (24 ff.). Israel begründet eine patriarchale Priesterreligion
(38). Die weiblichen Eigenschaften des Schutzgottes würden
verdrängt (40). Das Klischee fröhlicherer Leibhaftigkeit
wird dem „griechisch-hellenistischen Hintergrund" (42 ff.) zugeordnet
. Dafür sorgen auch die (so geschriebenen) „Häteren". Die
meisten Mysterienkulte hätten die sozialen Schranken aufgehoben
(71). Der Vf. fährt mit der Darstellung des „römischen Hintergrunds
" fort (75 ff.). Jüdische Leser müßten über die Beurteilung
Philos entgeistert sein (98). Jesus (106 ff.) kommt besser
davon. Er kenne einen liebenden Gottvater und durchbreche das
jüdische Gottesbild eines Despoten (117 f.). Besonders schlimm
ergeht es den frühchristlichen Deutungen des Menschen (125
ff.). An ihrem Anfang steht der „fanatische Missionar" Paulus
(127). Verwunderlicherweise bleibt die griechische und östliche
Theologie (174 ff.) ohne solche kritische Stellungnahme. In diesem
Abschnitt benutzt der Vf. zudem (ausnahmsweise) ausführliche
Primärquellen. Die römische und westliche Theologie (189
ff.) zeige außer Pelagius (206) nur Dunkles. So komme es zu den
körperfeindlichen Einstellungen (218 ff.) und zu geschlossenen
Glaubenssystemen (239 ff.). Thomas von Aquin muß selbstverständlicherweise
angegriffen werden (255). Hingegen bleibt die
Verweigerung der „patriarchalen Ehe" durch Bogomil und seine
Wanderasketen kritikfrei (264 f.). Übles ahnt der Vf. von Luther
und seiner Einstellung zur Sexualität (267); offenbar in derselben
Linie steht die bei Calvin aufgespürte Aggressivität, die zu 56
Todesurteilen geführt habe (268 f.). Einen umfassenden Abriß
will die „Emanzipation der kritischen Vernunft" demonstrieren
(281 ff.). Daß Bayle nun nicht mehr reformierter Christ sein darf,
sei nur am Rande bemerkt. Sonst geht es bunt durcheinander -
von Ketzern der römischen Kirche wie Bruno bis zu Antiaufklä-
rern wie Nietzsche. Die „gegenwärtigen Problemlagen" (312 ff.)
beschäftigen sich vor allem mit der Ideologie. Hier meint der Vf.,
Schüler von Ernst Topitsch und Hans Albert zu sein.

Woher bezieht der Vi', sein umfängliches Wissen, das bei näherer Nachprüfung
oft nicht standhält'.' Kr liest und exzerpiert vor allem Sekundärliteratur
, die höchst unterschiedlicher Qualität ist. Sie reicht von Ncstles „Griechischer
Geistesgeschichte" bis zu Karl Heinz Deschners Verriß des Christentums
. Da der Vf. ständig unkritische Haltungen bei den von ihm Beurteilten
findet, ist es legitim, dieselbe Vermutung an seine Methodik zu richten
. Sie ist offenbar ebenso ideologisch wie die von ihm kritisierte. Inwieweit
er überhaupt den „ethischen" Zielwerten der europäischen Aufklärung,
die der Jesusbewegung nicht fernstünden (7), nahekommt, bleibt auch nach
gründlicher Lektüre dieser Collage zu fragen. Wo sich Topitsch, Nietzsche
und C. Rogers offenbar harmonisch versammeln, fehlt eigentlich nur noch
die New-age-Bewegung.

Die komplexen Forschungsprozesse um die autoritäre und
konventionelle Persönlichkeit bescheinigen, daß angebliche
Glaubensinhalte durch radikalen Wechsel immer noch nicht die
zugrunde liegende Grundstruktur verändern. Angesichts merkwürdiger
Wege, die manche österreichische katholische Theologen
gingen (z.B. Mynarek), wäre einmal nach den besonderen
Sozialisationsbedingungen dieses Milieus zu fragen, die sich
scheinbar gänzlich umkehren und doch in derselben Strtiklur
verharren. Bewirkt die neuzeitliche Anthropologie, ermöglichen
die vielfältigen und oft widersprüchlichen humanwissen
schaftlichen Ergebnisse eine so leichte Befreiung? Ist nicht das
Verhältnis zum Körper als Leib durchaus spannungsvoll? Kommen
die Bedürfnisse von selbst in einem harmonischen Leben
zur Übereinstimmung? Gibt es überhaupt nicht das Phänomen
der Sucht? Gab es in vergangenen Jahrhunderten nicht hinreichende
soziale Gründe, die Sexualität und ihre Folgen zu kon-