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Ausgabe:

1995

Spalte:

1044-1046

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Patton, John

Titel/Untertitel:

Generationsübergreifende Ehe- und Familienseelsorge 1995

Rezensent:

Eschmann, Holger

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Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 11

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er durch einen Analogieschluß zwischen! sexuellem Akt und religiöser
Erfahrung. Beiden wohnt der Vorgang der Entgrenzung
inne, die Erfahrung eines Machtgeschehens sowie das Streben,
auf dem Höhepunkt zum vorübergehenden Bewußtseinsverlust
zu gelangen. Diese phänomenologische Parallelisierung von religiöser
und sexueller Erfahrung ermöglicht, im Gegensatz zur
Desexualisierung von Religion, ein erweitertes Sexual- und Religionsverständnis
: Sexualität wird in eine religiöse Auslegungsdimension
gestellt, Religion gewinnt hingegen ihre weithin verlorengegangene
vitale Basis zurück.

Diese für den abendländischen Leser ungewöhnliche Gedankenverbindung
versucht J. durch Hebung von Traditionsgut faßbarer zu machen -
zunächst in biblischer Überlieferung (28-32): Ansatzpunkte finden sich dort
in der Liebeslyrik des Hoheliedes und in der Übertragung des Ehebildes auf
das Verhältnis zwischen Christus und Gemeinde nach Eph 5,21 ff. Des weiteren
bietet auch die Kirchengeschichte Beispiele sexueller Interpretation
von Religion (32-40): so etwa die erosgeprägte Sprache Zinzendorfs oder
Karl Barths Lehre von der analogia relationis.

In aktuellen Äußerungen der Kirche zu Religion und Sexualität (41-49)
beobachtet J. hingegen vorrangig die Bannung der Sexualität durch die sog.
Institutionstheorie hinsichtlich der Ehe. „Weil eine Versöhnung zwischen
dem Religiösen und dem Geschlechtlichen unmöglich erscheint, bemüht
man in Kirche und Theologie das Gesellschaftsphänomen der Institution,
um gegenüber den bedrohlichen Aspekten von Sexualität sprach- und handlungsfähig
zu bleiben" (47). Einen Ausweg aus diesem Dilemma brächte
seiner Meinung nach einerseits die Erkenntnis, sich von der Institutionsfixierung
zu befreien, andererseits die Notwendigkeit, den Zusammenhang
zwischen Gottesliebe und Lebenslust neu zu entdecken (48).

Während der erste Teil von J.s Buch mehr allgemeinen Überlegungen
zur Thematik gewidmet ist, beschäftigen sich die folgenden
Kapitel mit speziellen Themenkreisen wie Ehe, Scheidung
, offene Beziehung, Homosexualität, Aids und Ehebruch.
Stellvertretend sei das Kapitel „Ehescheidung und Berufstaug-
lichkeit" (86-93) vorgestellt. Es ist insofern charakteristisch, weil
J. hier die Thematik insbesondere unter pastoraltheologischen
Aspekten verhandelt: Das Pfarrhaus bzw. der Pastor/die Pastorin
als Testfall für das in der Kirche erwartete Normverhalten.

Die Ehescheidung im Pfarrhaus gilt noch heute weithin als
Katastrophe. Wenn diese auch nicht mehr die Amtsenthebung
zur Folge hat, so kommen doch Zweifel bezüglich der Berufstauglichkeit
des Amtsträgers auf. Die Ehescheidung wird unter
normativer Perspektive als Verstoß gegen das kirchliche Leitbild
verstanden. Läßt man sich im Gegensatz dazu auf die Sicht der
Beteiligten ein, so könnte - nach J. - diese Lebenskrise auch als
eine Chance des Wachstums wahrgenommen werden. Die in der
Krise erfahrene Ohnmacht, Schuld und Trennung stehen „in
großer Nähe zur beruflichen Praxis der Pfarrerschaft" (87). Die
Ohnmachtserfahrung hinterfragt die menschlichen Allmachtsvorstellungen
, die Schulderfahrung deckt die idealen Selbstbilder
auf und die Trennungserfahrung fordert die Verarbeitung von
Trauerprozessen. Das Durchleben einer Scheidung kann somit
zur Gewinnung einer elementaren Lebenserfahrung fuhren, die
bei bewußter Wahrnehmung zur Reifung der Beteiligten beiträgt
und förderlich auf ihre poimenischen Fähigkeiten wirkt.

J.s Buch ist ein Plädoyer für die Leiblichkeit im Angesicht
der Religion. Das ist auch sein hermeneutischer Schlüssel, den
er in geradezu dogmatischer Weise vertritt. Wer dem nicht zuzustimmen
vermag, wird seiner Argumentation nur schwerlich
folgen können. Insofern ähnelt es strukturell den fundamentalistischen
Büchern zu diesem Thema, nur mit umgekehrtem Vorzeichen
. Der objektivere Leser hätte sich an mancher Stelle
mehr eine Einordnung in die allgemeine Sozialethik oder etwa
einen Vergleich mit der katholischen Ehelehre gewünscht.

Ebenso ist mir zweifelhaft, ob seine Gedanken kirchlich
überhaupt vermittelbar sind: die Bejahung von Scheidungsgot-
tesdiensten, die Bestätigung von homosexuellen Pfarrern und
Pfarrerinnen in ihrem Dienst, die Befürwortung von außerehelichen
Lebensformen auch im Pfarrhaus. Trotz alledem wirkt dieses
Buch befreiend für jeden, der den Konflikt mit der kirchlichen
Moralität durchlebt hat - insbesondere durch den Gedanken
, Sexualität wieder in den religiösen Interpretationsrahmen
zu stellen, bzw. Religion von der Sexualität her neu zu vitalisie-
ren. Denn es gilt: „Wenn die Sexualität von der Gottheit getrennt
wird, dann geht sie zum Teufel" (20).

Halle (Saale) Birgit Marchlowitz

Patton, John, u. Brian H. Childs: Generationsübergreifende
Ehe- und Familienseelsorge. Übers, von Ch. Hilbig. Göttingen
: Vandenhoeck & Ruprecht 1995. 238 S. 80. Kart. DM
38,-. ISBN 3-525-62337-2.

Die vorliegende Veröffentlichung zielt auf einen breiten Leserkreis
: „Zunächst sind alle diejenigen angesprochen, die in Familien
leben und sich mit Familienthemen aus christlicher Sicht
auseinandersetzen wollen. Seelsorger ohne familientherapeutische
Ausbildung finden hier Verständnishilfen und praktische
Vorschläge für ihre Arbeit mit Menschen, die an ihren Familienbeziehungen
leiden... Fachleuten in Lehre und Handeln der beratenden
Seelsorge sagen wir weitgehend nichts Neues. Wir sind
jedoch der Meinung, daß ihnen mit unserer Methode, die christliche
Anthropologie und die Seelsorge zusammenzubringen, ein
nützliches Modell für Lehre und Praxis bereitgestellt wird" (11).

Wie schon der Titel verrät, geht es den amerikanischen VIT.
um einen generationsübergreifenden Ansatz im Bereich der
Ehe- und Familienseelsorge. Ihre Grundthese ist, daß Partnerschaft
, Ehe und Familienleben nur dann gelingen können, wenn
gleichzeitig die Beziehungen sowohl zu den Ursprungsfamilien
als auch zur eigenen und nachfolgenden Generation berücksichtigt
werden.

Im therapeutischen Kontext knüpft diese systemische Sichtweise, die von
John Patton im deutschprachigen Raum bereits 1987 in der Zeitschrift
Wege zum Menschen vorgestellt wurde (Heft 4, 181-192). eng an die
Arbeiten von Ivan Boszormenyi-Nagy an. Theologisch berufen sich die
Autoren vor allem auf Paul Tillich, was im Kontext der modernen Seelsorgebewegung
nicht verwundert.

Die Vff. verstehen sich als Schüler Seward Hiltners. Sie sind beide
sowohl im Hochschulbereich als auch in der Beratungsarbeit tätig. Das
spiegelt sich in der Konzeption des Buches wider, das häufig von Fallbeispielen
ausgeht, aber auch die Auseinandersetzung mit theologischen und
psychologischen Entwürfen führt. Beide Autoren sind Pfarrer, einer gehört
der methodistischen, der andere der presbyterianischen Kirche an.

Das erste Kapitel dient der anthropologischen Grundlegung
des Ansatzes. In Anlehnung an die exegetischen Untersuchungen
Claus Westermanns zu Genesis 1-3 arbeiten Patton/Childs
drei Grundbestimmungen eines biblischen Menschenbildes für
die Seelsorge heraus: Der Mensch ist von Gott mit der Schöpfung
beschenkt und in die Verantwortung für sie gestellt. Er ist
als Mitmensch geschaffen, der sich in mannigfachen Beziehungen
immer schon vorfindet. Als zeitlich begrenztes Wesen hat
der Mensch „meist nur auf die Generationen unmittelbar vor
und nach (ihm)... einen wichtigen Einfluß" (36). Dies führt zu
der These, daß die zentrale Aufgabe des Menschen darin besteht
, „für die Generationen zu sorgen, die das eigene Leben
prägen - das heißt, für die vorausgehende und die nachfolgende
Generation Verantwortung zu übernehmen" (Umschlagtext).

In einer gewissen Chronologie werden in den folgenden Kapiteln
verschiedene Stationen familiärer Beziehungen angesprochen
: die Situation des/der (ledigen) einzelnen, Ehevorbereitung,
Partnerschaft in der Ehe, das Miteinander in der Familie, Trennung
und Scheidung, Wiederheirat und Gründung einer „Zweitfamilie
". Ehe wird von P./Ch. weniger strukturell als vielmehr
funktional gesehen. Ihr Ehekonzept wird „am treffendsten durch
das liebevolle Handeln charakterisiert, das in der Ehe stattfindet,
und nicht durch Form oder Dauer der Ehe" (99). Theologisch
wird die Ehe „der Metapher Berufung" zugeordnet und nicht so
sehr den traditionellen Begriffen Sakrament oder Bund, denn
..das Konzept der Berufung (entspricht) dem Prozeßcharakter des