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Ausgabe:

1995

Spalte:

865-867

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Bochinger, Christoph

Titel/Untertitel:

"New Age" und moderne Religion 1995

Rezensent:

Obst, Helmut

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Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 10

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mus denken. Sie basiert auf dem Liberalismus des 19. Jh.s. The-
se: Die Reformation gehört noch ins Mittelalter, weil sie das
ideal einer homogenen Sozial- und Glaubensdoktrin nicht prinzipiell
in Frage stellte. Erst in der Aufklärung ist das Prinzip der
Moderne, die Autonomie des Subjekts etabliert worden. Historisch
spricht manches für diese Sicht der Dinge, aber ihre
Fruchtbarkeit ist erschöpft, weil - zumindest in hiesigen Breiten
-Glaubens-, Rede- und Bewegungsfreiheit des Individuums
nahezu selbstverständlich geworden sind. Paul Tillich sprach
vom „prophetischen Prinzip", das der Protestantismus zum festen
Grundbestand der Neuzeit gemacht habe, fügte aber die Frage
nach dem „gestaltenden Prinzip" hinzu, das der protestantischen
Kritik die evangelisch erneuernde Konstruktion folgen
läßt.

c) Allenthalben steht heute die f rage im Raum, wie „Religion
nach der Aufklärung" (Hermann Lübbe), sprich: nach der
am aufklärerischen Portschrittsglauben hangenden Religions-
Kritik eines Feuerbach, Marx, Freud. Nietzsche. Barth und Bon-
noeffer neu zu situieren sei. Lernorte, Ausbildungsstätten und
Studienmöglichkeiten für die Vergleichzeitigung des Ungleich-
zeitigen werden gesucht. Wie kann Konvention unkonventioneil
, Tradition nicht traditionalistisch. Kritik nicht kritizistisch

und Dogmatik nicht dogmatistisch, kurzum: wie kann normativ
Gesetztes evangelisch frei erfüllt werden, um die Erfahrung des
Geistes zu machen. Dessen Autonomie kann nicht auf die
Dichotomierungsscholastik des Entweder-Oder verrechnet werden
: Normen oder Fakten, Werte oder Tatsachen, Genesis oder
Geltung, Original oder Zitat. Poesie oder Prosa, Geschichte
oder Gegenwart usw. Seine Domäne liegt im dritten Reich der
Formativität, gleiehweit entfernt von Normen oder Fakten. Und
darauf verweist Tillich mit dem aus der Kulturmorphologie
Herderscher Provenienz, stammenden Gestaltungshegriff: „Gestalten
der Gnade". Um in diese Theoriespur zu kommen, habe
ich Luther als Columbus der christlichen Moderne gedeutet, der
pietistischen Lebensidee die Mittlerrolle zwischen Alt- und
Neuprotestantismus zugewiesen und die Universitätstheologie
auf den Diskretionseharakter des phänomenologisch-hermeneu-
tisehen Symbolbegriffs nach vollbrachter Aufklärung festgelegt
. Es geschah, um Formationen der Lebenswelt deskriptiv so
auszuweisen, daß auf ihr Angebot nur mit: „Hie Rhodus, hie
salta!" (Aesop) reagiert werden kann. Das entsprechende

Luther-Zitat lautet:.....ohn all Verdienst und Würdigkeit." Von

den Formationen ist es ja nicht weit bis zu den Re-Formationen
des (ieistes.

Religionswissenschaft

Boehinger. Christoph: »New Age« und moderne Religion.

Religionsw issenschaftliche Analysen. Gütersloh: Kaiser/Gü-
tersloher Verlagshaus 1994. 695 S. 8". Kart. DM 168,-.
ISBN 3-579-00299-6.

Die außergewöhnlich umfangreiche Münchener Dissertation
hat schon bald nach ihrer Drucklegung zu Kontroversen unter
New Age-Kennern und -Kritikern geführt (vgl. MD 12/94. 353-
363; MD 5/95, 143-147). Das ist angesichts der Flut von New
Age-Literatur ein Indiz dafür, daß diese Arbeit auf der Grundlage
ihres erklärt religionswissenschaftlichen Ansatzes Neues,
Kontroverses. Weiterführendes bringt. Dem beachtlichen Informationsgewinn
, vor allem auch in der Fülle der Details, korrespondiert
der Frkenntnisgewinn nicht zuletzt in der Auseinandersetzung
mit dem methodischen Grundansatz des Vf.s sowie
den Ergebnissen seiner Analysen. Es geht ihm darum, „eine
vorschnelle und klischeehalte Bewertung des Phänomens .New
Age' zu vermeiden und bereits existierende Verfestigungen im
vorherrschenden Bild der Öffentlichkeit aufzuzeigen und zu
hinterfragen" (183).

Die ..Problembeschreibung" ist ausführlich (23-99), sie ist,
U |e manches in der Arbeit, zu breit angelegt, bisweilen zu sehr
* Verästelungen gehend. Von besonderer Bedeutung für den
Zugang zui Arbeit sind einleitend „Methodische Überlegungen:
•New Age' und die Verhältnisbestimmung von Religion, Religionswissenschaft
und Theologie" (1.3). Der Vf. steckt Grenzen
ah. innerhalb derer für ihn ein religiöses Phänomen der
Gegenwart, das so „diffus, uneindeutig, synkretistisch. pluralistisch
, individualistisch" wie New Age ist (99). wissenschaftlich
beschreibbar wird.

Diese Beschreibung hat für ihn neutral und möglichst wertfrei
zu geschehen, ohne damit letzte theologische Urteile, die
dann aber als solche zu kennzeichnen sind, auszuschließen. Er
wendet sich damit gegen Raster herkömmlicher theologischer
Apologetik im Umgang mit neuen religiösen Phänomenen:
••Eine theologische Auseinandersetzung hat ihren Namen nicht
verdient, wenn sie .New Age" als Epi-Phänomen zur Funda-
mentierung eigener Interessen v ersteht und mit Hilfe einer Abgrenzungsstrategie
eigene Werte zu retten versucht" (99).

Am Rande sei erwähnt, daß die Forderung, zwischen Darstellung
und Bewertung von religiösen Phänomenen deutlich zu unterscheiden
, an und für sich eine Selbstverständlichkeit sein sollte
, es aber, wie einschlägige Literatur zeigt, noch lange nicht ist.

Der erste Hauptteil der Arbeit „Zeitgeschichtliche Zugänge"
(103-201) setzt ein mit Untersuchungen zu .„New Age' als
Sammelbegriff für eine Neue religiöse Szenerie im deutschen
Sprachraum". Es wird ein sehr instruktiver Überblick von New
Age in der religiösen Subkultur der 70er Jahre und frühen 80er
Jahre einschließlich seiner Öffentlichkeitswirksamkeit gegeben.
Bereits hier wird deutlich gemacht, „daß .New Age' ein disparates
Syndrom ist", dessen Namensgebung mit seiner öffentlichen
Wahrnehmung zusammenfällt (137). Der fundierte Nachweis
der „Prägekraft von Verlagsprogrammen für die religiöse
Zeitgeschichte" (3.) erweist sich in diesem Zusammenhang als
ausgesprochen illustrativ.

Eine Fülle von Informationen erhält der Leser im zweiten
Hauptteil der Arbeit: „Begriffs- und Ideengeschichtliche Zugänge
". Ausgehend von den Wurzeln abendländischer Weltalterlehren
und vor allem chiliastischer Vorstellungen vom Kommen
eines Neuen Zeitalters wird Emanuel Swedenborgs Neufassung
spiritualistischer Traditionen in seiner Lehre von der
„Neuen Kirche" große Beachtung geschenkt, um dann die Begriffsgeschichte
des Ausdruckes „New Age" von 1804 bis in
die Gegenwart hinein zu verfolgen. Auch Entlegenstes tritt in
den Blick, manches wird am Rande freilich auch übersehen, so
die Verwendung des Zeitalterbegriffes bei den Zeugen Jehovas.

Wurzeln. Hintergründe und Umfeld der Rede vom „Wasser
mann-Zeitatter'', die „Geschichte eines modernen Mytholo-
gems" (7.). werden ebenso untersucht wie die Begriffe „Esoterik
" und „Spiritualität", zwei „Leitworte der gegenwärtigen
religiösen Szenerie" (8.). „Dabei kristallisier(t)en sich typische
Fragestellungen. Themen und zugehörige Begriffe heraus, die
den freireligiösen Anteil der modernen Religionsgeschichte im
besonderen charakterisieren" (399).

Im dritten Hauptteil werden „Säkulare Themen in religiöser
Deutung: Themenwahl und Struktur neuer religiöser Entwürfe"
(411-511) behandelt. Beispielhaft führt dies der Vf. an Fritjof
Capra vor, der selbst freilieh bestreitet, ein New Age-Vertreter
/u sein. Capra erseheint als ein Prototyp des religiösen Menschen
der Moderne, der, vom Konzept einer ganzheitlichen Me-
tawissenschaft ausgehend, säkulare Themen mittels Rück-