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Ausgabe:

1995

Spalte:

809-814

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Kinzig, Wolfram

Titel/Untertitel:

Novitas Christiana 1995

Rezensent:

Markschies, Christoph

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809

Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 9

810

Dieses Buch füllt eine Lücke, insofern es in kompakter, verständlicher
und angesichts der Materie erstaunlich unpolemischer
Form die einschlagigen Thesen der sogenannten Kirchenväter
, d.h. der christlichen Autoren der Zeit von ca. 100 bis 500
n.Chr. zur Darstellung bringt. Die Autorin beabsichtigt weniger,
„neue Perspektiven oder einen Neuansatz zu bringen, als vielmehr
, basierend auf vielen Forschungsergebnissen gerade von
Frauen, Ergebnisse zu .bündeln' und in einer Art Systematisierung
die Ideologie des Geschlechterverhältnisses aufzuzeigen"
(7). Obwohl diese Zusammenschau insgesamt eine geschlossen
patriarchale Sicht des Geschlechterverhältnisses ans Licht
bringt, bemüht sich F., auch „alternative Ansätze" zu berücksichtigen
, die „die gängige patriarchale Sicht unterlaufen" (12).
Solche Ansätze existieren immerhin, handelt es sich doch beim
antiken Weltbild durchaus nicht um einen einheitlichen patriar-
chalen Block. Um so deprimierender ist es für heutige Leserinnen
und Leser festzustellen, wie wenig sich die Theologie der
Alten Kirche um ein Bündnis mit den liberalen Strömungen der
antiken Umwelt und eine entsprechende Auslegung der einschlägigen
Bibelstellen bemüht hat.

F.s Methode besteht darin, die Texte selbst zu Gehör zu bringen
. In sieben Kapiteln rekonstruiert sie, nach systematischen
Gesichtspunkten wie .Eheverständnis', .Gottebenbildlichkeit',
Verhältnis des ,Hauses' zum öffentlichen Raum etc. gegliedert,
die Ordnung, mit der die Kirchenväter das Faktum der Zweige-
schlechtlichkeit sich und den Gläubigen verständlich zu machen
suchen. Diese Ordnung ruht auf der Grundannahme, daß der
Mann als „das exemplarische Geschlecht" (15) den ,Menschen'
schlechthin und den Bereich des Geistigen und Gott-Nahen repräsentiert
, w ährend Gott die Frau als Repräsentantin des Körperlich
-Materiellen im Schöpfungsakt eine Hierarchiestufe tiefer
angesiedelt hat. Das monotheistische „Ein-Prinzip" (24)
führt so zu einer hierarchischen Ordnung, in der Theo- und
Androzentrik einander bedingen und in der die Unterordnung
der Frau als lediglich durch moralische Weisungen gemilderter
gottgewollter Zustand erscheint. Ich empfehle F.s Buch insbesondere
denjenigen zur Lektüre, die angesichts der heute üblichen
Gleichheitsrhetorik in Kirche und Gesellschaft dazu neigen
, die patriarchalen Wurzeln unserer Kultur zu vergessen
oder zu verharmlosen. Mit F. bin ich der Meinung, daß es auch
heute noch notwendig ist. diese Wurzeln beharrlich in Erinne-
rung zu rufen und nach ihrem untergründigen Weiterwirken zu
fragen - eine Frage allerdings, deren Beantwortung die Autorin,
die sich ganz auf die historische Dimension des Themas konzentriert
, ihren Leserinnen und Lesern überläßt.

Krinau Ina Praetorius

Kinzig. Wolfram: Novitas Christiana. Die Idee des Fortschritts
in der Alten Kirche bis Eusebius. Göttingen: Vanden-
hoeck & Ruprecht 1994. 702 S. gr.8° = Forschungen zur Kirchen
- und Dogmengeschichte, 58. ISBN 3-525-55166-5.

Bereits im Vorwort dieser Studie räumt der Autor ehrlicherweise
ein. daß er ein doppeltes Wagnis unternommen habe.
Zum einen habe er es gewagt, die „Denkkategorie" „Fortschritt
" (= F.), „für die die frühchristlichen Theologen selbst
keine Bezeichnung hatten", in einer Untersuchung zu behandeln
(7), zum anderen müsse er selbst sein Unternehmen so einschätzen
, „weil die Qualität ideengeschichtlicher Untersuchungen
in erster Linie von der Quellen- und Literaturkenntnis ihres
Verfassers abhängt" (ebd.). Entsprechend darf eine Rezension
zu diesem opus magnum also die Frage stellen, ob dieses doppelte
Wagnis gelungen sei - d.h. ob K. in seiner Heidelberger
Habilitationsschritt von 1991/1992 diese „Denkkategorie" bzw.
..Idee" als bedeutsam für die „theologische und auch institutionelle
Entwicklung der Alten Kirche" (7) erwiesen hat und hierbei
den altkirchlichen Texten einerseits und dem Forschungsstand
andererseits gerecht geworden ist.

Wollte man rein nach der beeindruckenden Quantität des umgeschlagenen
Materials gehen, wäre mit der Antwort ,ja" kaum
zu zögern: 23 Seiten Stellenregister (641-663) mit geschätzten
3000 Belegen und 47 Seiten Verzeichnis der Sekundärliteratur
(593-639) mit weit über 1200 Literaturtiteln bis hin zu jüngsten
Neuerscheinungen und dem unverkennbaren Streben nach Vollständigkeit
. Den Satz mußte der Autor selbst mit dem Computer
übernehmen, aber die Zahl der Druckfehler und Versehen hält
sich in Grenzen und kann hier vernachlässigt werden. Unbedingt
genannt werden muß aber eine Auslassung der Seite 578,
Zeile 28: Hier ist als drittes Wort „nicht" einzufügen, damit die
Aussage eine reformatorisch-theologische bleibt.

Zum Inhalt: Nach einem Forschungsüberblick (23-71) folgt
methodisch überzeugend zunächst als Definition eine Aufzählung
von Elementen, „die für die Idee des F.s konstitutiv sind"
(74): „F. ist eine Aufeinanderfolge von Formen und Zuständen ";
die „jeweils zeitlich folgenden Formen und Zustände sind neu,
d.h. in dieser Form noch nicht dagewesen"; dieses „Neue wird...
als... qualitativ besser eingestuft"; diese Wertung „impliziert eine
Zielvorstellung, an der der F. gemessen wird" (74f). Danach
nennt Vf. diejenigen Thesen, die er mit seiner Arbeit nachweisen
will: „Auch wenn der griechisch-römischen Antike die Idee des
F.s (im oben definierten Sinne) nicht völlig unbekannt war, so
entwickelte sie doch erst in ihrer christlichen Formulierung eine
Dynamik, die nicht nur das Verständnis von und das Reden Uber
Geschichte, sondern auch den Verlauf historischer Prozesse
selbst nachhaltig beeinflußt hat ...Die ,Konstantinische Wende'
und die theologiegeschichtlichen Entwicklungen des vierten
Jahrhunderts ...können ohne sie nicht adäquat verstanden werden
" (77). In dreifacher Hinsicht bilde das Christentum im zweiten
und dritten Jahrhundert eine F.sidee aus, als heilsgeschichtlicher
, kultureller und politischer F., und alle drei „Spielarten" entstammen
nach K. „einer gemeinsamen Wurzel: dem Neuheitsbewußtsein
des Christentums" (78).

Ich vermisse spätestens an dieser Stelle eine Ubersichtliche Zusammenstellung
von griechischen und lateinischen Begriffen, die in den herangezogenen
Texten jenes „Ensemble" von Vorstellungen bilden, hinter dem der
Vf. die „F.sidee" vermutet - was Klaus Thraede hierzu in RAC VIII. 141
auf vier Zeilen bietet, wäre ja durchaus ausweit- und verbesserbar gewesen.
Eine solche klassische begriffsgeschichtliche Überlegung, die man nicht für
hermeneutisch oder linguistisch naiv ausgeben sollte, wäre m.E. dafür hilfreich
gewesen, das Leitinteresse an der „Denkkategorie F." und den Blick
auf den eigentlichen Skopus von verhandelten Texten strenger zu trennen:
So wird z.B. unter der Überschrift ..Die Vorgeschichte: Die Ausbildung des
Neuheitsdenkens in der jüdisch-christlichen Tradition bis zur Mitte des
zweiten Jahrhunderts" ein Philotext zitiert (84 n. 13), in dem der Alexandriner
„die Steigerungen (emöooEtc.) in Vervollkommnung der nach dem Guten
unersättlich und unstillbar verlangenden Seele" in den Blick nimmt
(Cain 174). K. nimmt diesen Text als Beleg einer Verknüpfung von „geschichtlichem
und Seelenfortschritt", und das ist sicher nicht falsch. Aber
Philo geht es an dieser Stelle eigentlich um ein anderes Thema, wie sich
bereits zwei Sätze später klar zeigt: "...mit dessen (sc. Noahs) Vollendung
aber beginnt Abraham seine Erziehung (jimoeueoBaO". Skopus der Passage
ist die von K. nicht besprochene Stufenfolge der JiaiÖEia - und den
Namen von Werner Jaeger sucht man vergeblich unter den tausenden Titeln
des Literaturverzeichnisses.

K. beginnt dann chronologisch geordnete Durchgänge durch
die altchristliche Literatur bis hin zu Euseb und Laktanz mit ausführlichen
Zitaten von übersetzten Passagen dieses Materials,
denen in der Regel der Originaltext in den Fußnoten beigegeben
ist, so daß Übersetzung und Argumentationsgang sich leicht
überprüfen lassen. Natürlich wäre hier im einzelnen manche kritische
Bemerkung zu machen, aber insgesamt entsteht dadurch
eine leserfreundliche Monographie, was K. zu danken ist.

Ein erster Abschnitt zu biblischen und zwischentestamentli-
chen Texten (81-117) ergibt, daß K. dort keinen „kontinuierlichen
, universalen F.prozeß" findet, wohl aber einen „geschieht-