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Ausgabe:

1995

Spalte:

666-669

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Schmithals, Walter

Titel/Untertitel:

Theologiegeschichte des Urchristentums 1995

Rezensent:

Roloff, Jürgen

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Seite 1, Seite 2, Seite 3

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Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 7/8

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.als Problem von Distanz und Nähe": wenn die Distanz - etwa
zwischen dem ..Zentrum" und der ..Peripherie" - zu groß ist,
werden die Anderen totalitär vereinnahmt; extreme Distanz
schlägt in extreme Nähe um. - ..Ausschluß in gewaltsamen Einschluß
". Als Alternative zu solcher Totalisierung, die die Anderen
nicht als ..Andere" ertragen kann, sieht Schmeller „eine
Beziehung zu den Anderen, die ein spannungsvolles Verhältnis
von Distanz und Nähe darstellt und aushält: Die Anerkennung
des Rechts der Anderen auf Andersheit verbindet sich hier mit
der geduldigen Suche nach Berührungspunkten" (49) innerhalb
des genieinsamen Menschseins.

Diese Problematik wendet Sch. nun aber nicht nur wie Dussel
auf das Verhältnis zwischen Dritter und Erster Welt an, sondern
auch auf die Beziehung zwischen den Lesenden und dem
biblischen Text. Die Leitthese der Arbeit, die ihr den Titel
gegeben hat. wird also aus einer Modifikation des Modells von
Dussel gewonnen. ..Bibellektiire und Beziehung zu den Anderen
haben in ihrem Umgang mit Distanz und Nähe eine Gemeinsamkeit
, die von beiden Seiten her geformt und verändert
werden kann". Also: „Die Art meines Umgangs mit der Bibel
im Hinblick auf Distanz und Nähe hängt mit Distanz und Nähe
im heutigen gesellschaftlichen Kontext zusammen" (52).

Seine These führt Sch. bei der Analyse lateinamerikanischer
Bibeldeutungen durch, indem er diese in doppelter Hinsicht
befragt. Einmal fragt er nach der heutigen sozialen Situation,
der die Deutungen entspringen: Wie stellen sich Distanz und
Nähe im Verhältnis zu den Anderen dar? Und zweitens: Welche
Einstellung - zwischen Identifizierung und Distanzierung -
wird dem Bibeltext gegenüber eingenommen? Wo die Spannung
zwischen Distanz und Nähe nicht ausgehalten wird, werden
die „Anderen" (d. h. sowohl die gesellschaftlichen
Gruppen heute wie die biblischen Texte) nicht mehr als solche
wahrgenommen: es kommt zu totalitärer Distanzierung oder zu
totalitärer Vereinnahmung.

Beim Durchgang durch die Fülle lateinamerikanischer Bibelauslegungen
aus dem Umkreis der Befreiungstheologie kommt
Schmeller zu dem Ergebnis, daß diese doppelte Spannung weithin
erhalten bleibt. Problematisehe Ausnahmen - etwa beim Bild
des Judentums zur Zeit Jesu - werden nicht verschwiegen.
Schmeller zeigt, daß im Text- und im Kontextbezug der lateinamerikanischen
Auslegungen die Nähe stärker betont wird, als
dies in der Exegese der Ersten Welt geläufig ist. Der Autor interpretiert
(und wirbt um Verständnis für) diesen Tatbestand durch
die Einführung des Begriffspaars Inklusion und Exklusion für die
Deutung der ntl. Darstellung Jesu Christi (175-180). Wie im NT,
so wird - in der professionellen Befreiungstheologie mehr, in der
populären weniger - die Spannung zwischen der Inklusion (Jesus
als menschliches Beispiel, seine Wunder als Orientierung für die
Praxis) und der Exklusion (Jesus als Vollmachtsträger und erhöhter
Herr) durchgehalten.

Es ist das Verdienst der vorliegenden Arbeit, die exegetische
Produktion in Lateinamerika nicht, wie häufig, negativ oder
positiv etikettiert zu haben: vielmehr erschließt sie die explizit
oder implizit zugrundegelegte lateinamerikanische Hermeneutik
so. daß sie als gleichberechtigt ins Gespräch mit der europäischen
Exegese gebracht wird. Vorzüge und blinde Flecken gibt
es auf beiden Seiten. Sch.s Untersuchung bedenkt in der Tat
„die Möglichkeit, daß der Andere recht hat" (vgl. Punkt I). -
Unter dieser Voraussetzung seien zwei kritische Bemerkungen
angeführt:

I. Die der Lektüre des Neuen Testaments in Lateinamerika
gewidmete Arbeit schließt thematisch bedingt die lateinamerikanische
Lektüre des Alten Testaments fast gänzlich ans. Das
ist u. a. deshalb mißlich, weil so auch die ntl. einschlägigen
Auslegungen in der Exegese des AT in Lateinamerika nicht
berücksichtigt werden (wie etwa die ntl. Passagen in der Deu-
terojesaja-Auslegung von C. Mesters).

2. Sch. reduziert entgegen dem Selbstverständnis der Befreiungstheologie
deren Reflexionsfelder auf die professionellen und
populären Aspekte. Er scheidet die „pastorale" Befreiungstheologie
und damit die sich an bestimmten außen- und binnenkirchlichen
Handlungsfeldern orientierende Praxis der Kirche in Lateinamerika
von vorneherein aus (vgl. 2, Anm. 4!).

Erlangen Hermann Brandt

Schmithals, Walter: Theologiegeschichte des Urchristentums.

Eine problemgeschichtliche Darstellung. Stuttgart-Berlin-
Köln: Kohlhammer 1994. 332 S. gr. 8°. Kart. DM 49.80.
ISBN 3-17-012965-1

Dies ist ein in höchstem Maße originelles Buch, das sich in keiner
Weise an gegenwärtige wissenschaftliche Trends und Moden
anschließt, sondern einen ganz eigenständigen Entwurf der
Entwicklungsgeschichte urchristlicher Theologie vorlegt. Wer
die zahlreichen bisherigen Arbeiten von W. Schmithals kennt,
wird den meisten seiner geistvollen, die Forschungsdiskussion
gleichermaßen anregenden wie auch irritierenden Hypothesen
hier wieder begegnen. Neu ist jedoch, daß diese nunmehr ihren
erkennbaren Ort innerhalb eines übergreifenden Gesamtentwurfs
von faszinierender Dichte und Konsequenz erhalten,
eines Entwurfes, der auch dem, der (wie der Rezensent) ihm
weithin nicht zu folgen vermag, neue Perspektiven erschließt.

Den Ausgangspunkt bildet die Feststellung: „Die Lückenhaftigkeit
der Überlieferung läßt es nicht zu, eine einigermaßen
geschlossene Entwicklungsgeschichte der frühchristlichen
Theologie zu schreiben" (7). Daß dieser Sachverhalt nicht
durch die Einzeichnung der überkommenen Nachrichten in ein
angeblich vorgegebenes Entwicklungsgesetz verschleiert werden
darf, ist ein zentrales Anliegen des Vf.s. Überall da. wo er
in heute verbreiteten Sichtweisen der Exegeten (z.B. in der Exegese
von Gal 2) Nachwirkungen des Geschichtsschemas F.Chr.
Baurs und seiner Tübinger Schule zu entdecken meint, meldet er
darum Widerspruch an. Aber auch die Atomisierung der frühen
Theologiegeschichte in einzelne anonyme Entwicklungslinien
mit jeweils eigenen, voneinander isolierten Trägergruppen oder
Schulen (z.B. Köster/Robinson) hält er für unangemessen. Die
tragende Prämisse seiner Darstellung ist demgegenüber die
innere Vernetzung der verschiedenen Traditionen und Entwicklungslinien
von Anfang an. Die fundamentalen theologischen
Entwicklungen haben schon in der frühesten apostolischen Zeit
stattgefunden, und zwar in dem Dreieck Jerusalem - Damaskus
- Antiochien. Und zwar haben dabei einige führende theologische
Gestalten - wie Petrus, Paulus und wohl auch der Herrenbruder
Jakobus - in gegenseitiger Wahrnehmung und persönlicher
Begegnung eine zentrale Rolle gespielt. Dieser Prämisse
folgend, konzentriert sieh die Darstellung auf problemorientierte
Einzeluntersuchungen, die den zentralen Wendepunkten der
Entwicklung und den grundlegenden theologischen Entscheidungen
gewidmet sind.

Eine weitere (m.E. problematischere) Prämisse ist. daß die
tragende Mitte des christlichen Glaubens von Anfang an aus
bestimmten, vor allem christologischen Lehrtraditionen und
Bekenntnisaussagen bestanden habe. Mit G.E. Lessing teilt der
Vf. die Überzeugung, daß die regula fidei, nicht hingegen die
Schrift, der Fels sei. auf dem die Kirche Christi erbaut worden
ist (264). Sie konkretisiert sich in einer doppelten Relativierung
der Evangelien: Diesen liege zum einen keineswegs ein in den
Gemeinden lebendiger Strom erzählender Jesusüberlieferung
zugrunde; sie seien vielmehr primär durch einzelne Verfasser
erstellte Lehrschriften. Zum anderen aber wollte keiner der
Evangelisten „ein Evangelium als grundlegenden und umfas-
senden Ausdruck des Evangeliums schreiben", sondern als