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Ausgabe:

1995

Spalte:

611-616

Autor/Hrsg.:

Hoffmann, Fritz

Titel/Untertitel:

Magister Martin Luther - die Ursprünge seines Lehrens und Wirkens an der abendländischen Universität 1995

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Theologische Literatlirzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 7/8

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gesellschaftlicher und ästhetischer Praxis und trotzdem nicht
weniger hermeneutisch-katechetischer Praxis: Nur wenn gemeindliche
Praxis zurückbezogen wird auf die Reflexion jenes
hingerichteten Menschen Jesus, der alle Praxis als diejenige
einer endlichen Welt zu verstehen lehrt und sich als der Auferstandene
und Kommende nicht mit gesellschaftlichen Utopien
oder Erfahrungen des Numinosen verrechnen läßt, bleibt sie ein
anderes in einer Gesellschaft sozialer und ästhetischer Machbarkeiten
. Gemeinde als Zeichen, die nicht im Bewußtsein
behält und ins Bewußtsein ruft, eschatologisches Vor-Zeichen
zu sein, wird zum leeren Zeichen.

Damit aber geht es in der Gemeinde als communio und com-
municatio viatorum auch nicht mehr einfach um ein Mit-Wan-
dern mit der Gesellschaft durch ihre Diskurse, auch nicht um

ihre spielerisch-kreative, damit auch zur „Ironie" hin offene87
Distanz zu einer heimatlosen Welt, sondern um einen letzten
Ernst, dessen eschatologische Überwindung nicht mit deren
Antizipation in der Geschichte verwechselt werden darf. Ist der
Auferstandene und Kommende „empirisch" nur der Gekreuzigte
, dann reicht für gemeindliche Praxis ein „Mutmachenzumle-
ben" nicht mehr aus, und kritisch sollte Gemeinde gegenüber
allen Gefahren der Austauschbarkeit ihrer Programme mit denjenigen
der Freizeitindustrie einer Gesellschaft sein, deren Endlichkeilserfahrungen
zunehmend wegästhetisiert werden.
So könnte sich mancher Gemeindebrief ändern.

Vgl. dazu Krieg. Der verstummende Diskurs, 348.

Fritz Hoffmann

Magister Martin Luther - die Ursprünge seines Lehrens und Wirkens
an der abendländischen Universität

Zum Werk von Graham White „Luther as Nominalist"*

Große geistige Bewegungen, die den Gang der Geschichte entscheiden
, entspringen nicht nur einer in sich einfachen Idee, mag
sie noch so staunenswert sein. Sie wachsen auch auf einem elementaren
Fundament, das zu einem nicht geringen Teil aus
schulmäßigen Praktiken und Methoden besteht. Wer einmal diesem
Phänomen nachgeht, wird die Einsicht gewinnen, wieviel
mühsame Kleinarbeit und alltäglich durchgezogene Anstrengung
der Weg eines Genies von den ersten Ansätzen bis zum Ziel fordert
. Viel ist über den Reformator bereits geforscht und geschrieben
worden. Nun wird uns eine Studie vorgelegt, in der wir in die
akademische Werkstatt Luthers eingeführt werden. Nicht alles ist
neu; manches ist früher schon gesagt worden. Doch diese zusammenhängende
Darstellung gibt ein neues, faszinierendes Gesamtbild
, in dem die einzelnen Konturen ins Licht gerückt werden
und manches neu entdeckt wird, was bisher im Schatten schulmäßiger
Theologiegeschichte zu wenig beachtet wurde.

1. Die Studie von White rückt drei wesentliche Merkmale des
Reformators Martin Luther in den Blickpunkt der Forschung, die
bisher nicht gebührend beachtet worden sind und doch von
großer Bedeutung für die Durchführung seiner Theologie waren:

(1) Luther war ein in der scholastischen Methode ausgebildeter
Magister der Theologie und blieb dies sein Leben lang.

(2) In der scholastischen Methode spielte im Spätmittelalter
die Logik eine wichtige Rolle, so daß wir Luther von diesem
Gesichtspunkt her als Logiker bezeichnen können. Dies wird
durch seine Vorliebe für die Disputierkunst noch unterstrichen.

(3) Uber das mit der Logik verbundene formale Interesse an
der Sprache Finden wir bei Luther noch ein materiales, das Einfühlen
in den Bedeutungsgehalt von Wort und Sprache, was uns
berechtigt, in ihm auch einen Linguisten zu sehen.

Dieses mit Enthusiasmus geschriebene Werk enthält zwei
Hauptteile. Der erste bringt unter dem Titel Introduction (15-88)
eine grundsätzliche Einführung in die scholastische Methode
des Beweises, rückgebunden an das Mittel der Disputation und
an deren Gebrauch durch Luther. Im zweiten Teil werden die

■■ White. Graham: Luther as Nominalist. A Study of the Logical
Methods used in Martin Luther's disputations in the Light of their Medieval
Background. Helsinki: Luther-Agricola-Society 1994. 418 S. 8° = Schriften
der Luther-Agricola-Gesellschalt. 30. ISBN 951-9047-28-X.

Ergebnisse dieser Untersuchungen auf die einzelnen Disputationen
Luthers angewandt: Auf die Disputation über Rom 3,28 (89-
124); auf die Disputation über die Menschwerdung des Gottes
sohnes: „Das Wort ist Fleisch geworden" (124-180); auf die Disputationen
über die Trinität (181-230); auf die Disputation über
Gottheit und Menschheit in Christus (231-298). Das Fazil zieh!
der Vf. in Kap. 6 Schlußfolgerung: Die neue Sprache (299-348).
Kap. 7 bringt sorgfältig ausgewählte Textbelege. Den Schluß bilden
die Anmerkungen, ein Verzeichnis der Abkürzungen, eine
Bibliographie und ein Namensregister. Schon auf den ersten Seiten
, bevor er systematisch an seine Aufgabe herangeht, set/t W
entscheidende Akzente und umschreibt die Ziele seiner Untersuchung
. Texte, die in Luthers Schriften dunkel oder widersprüchlich
erschienen, erweisen sich als Ergebnisse einer streng angewandten
Logik. Zugleich spielt in dieses Zusammenwirken von
Logik und Glaubensreflexion ein Problem hinein, das die ganze
Theologiegeschichte des Mittelalters nicht zur Ruhe kommen
ließ: Das Verhältnis von Glaube und Vernunft. So ergeben sich
für die Untersuchung zwei Aspekte: ein theologischer und ein
sprachtechnischer (15). Beide sind aber nicht voneinander zu isolieren
. Zwar bekämpft Luther jede Grenzüberschreitung der Philosophie
auf das Gebiet der Theologie. Profane Erkenntnis (und
ihre Ausdrucksweise) ist strikt zu unterscheiden von der Glaubenserkenntnis
(und ihrer Ausdrucksweise). Jedoch können beide
. Philosophie und Glaube, philosophische und theologische
Rede, das gleiche Objekt haben, ohne daß sich dann die solch ein
Objekt beschreibenden Begriffe zueinander äquivok verhalten.
Luther verteidigt diese These entschieden gegen den Versuch der
Sorbonne, auf dem Gebiet der Christologie von Äquivokationen
zu sprechen, als ob .Mensch' dort einen anderen Bedeutungsgehalt
habe als in der Philosophie (16). Dieses spezielle Problem
der Bezeichnungsweise taucht in der Studie wiederholt auf. Zum
Abschluß dieser Vorbemerkungen stellt uns W. das Programm
seiner Studie vor. Zuerst will er eine Erklärung zu dem Ausdruck
.Disputation' geben, dem Gebrauch durch Luther selbst und im
Umfeld seines Wirkens (20-26). An zweiter Stelle sollen Verbindungen
Luthers zu Vorgängern in der Scholastik aufgezeigt werden
(26-39). Das dritte Kapitel bringt das Thema: Luther und die
Sprache in mittelalterlicher und moderner Sicht (39-49). An vierter
Stelle behandelt W. die Rolle, die Luther der Vernunft (ratio)
in der theologischen Reflexion beimißt (49-60). Der fünfte und