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Ausgabe:

1995

Spalte:

557-559

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Henry, Michel

Titel/Untertitel:

Die Barbarei 1995

Rezensent:

Keil, Günther

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Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 6

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nicht kritisiert (zeugt Wilhelm in EO II mit seiner Idealisierung
der Ehe nicht von einem ethisch verengten Begriff des Schönen
?). Diese Kritik kann E. sich sparen, da l. die moderne
Kunst den Gedanken der Schönheit des Kunstwerks ohnehin
preisgegeben hat, und 2. das ethisch Schöne wiederum ästhetisch
gedeutet werden kann: als gelebte Schönheit. Beruht dieser
Geniestreich Ernes auf einer Vergewaltigung SKs? Keineswegs
, wenn man beim Gerichtsrat Wilhelm zur Schule geht und
von ihm lernt, daß sich das Ethische „ganz gewiß ästhetisch
darstellen" läßt (zit. 120). Allerdings kann es nicht mehr im
Kunstwerkfixiert werden, denn es liegt jenseits von Begriff und
Werk in der Durchsichtigkeit und Tiefe lebensgeschichtlicher
Selbsterschließung: Nur die ist wirklich schön. Wilhelms missionarischer
Ethikkurs in EO II hat also (zwar nicht in Regine,
aber) im Ästhetiker Erne einen dankbaren Leser gefunden, freilich
ohne daß die Pseudonyme Funktion Wilhelms von SKs
Gesamtwerk her noch einmal (kritisch) in den Blick genommen
würde. Stattdessen werden etwas verquer Kunstbeispiele angehängt
(134-145). Was SK dazu sagen würde? Nun, das Recht
der Toten, dauerhalt zu schweigen, wird keine Kunst - auch
nicht die moderne - suspendieren können. Allerdings wird
durch Ei nes abschließende Konzentration auf Werkinterpretation
der schön entfaltete Gedanke einer Aufhebung der Kunst in
gelebte Schönheit (Lebenskunst) zuletzt doch wieder zurückgenommen
. Merkwürdig. Und wenn schon am Ende auf bestimmte
Kunstwerke (i.w.S.) rekurriert wird, so bleibt dem Rez. unklar
, warum z.B. statt des merkwürdigen Flaschenensembles
von Morandi (139) nicht ein Werk P. Klees (113.121!) oder E.
Münchs gewählt wurde.

Insgesamt macht das Buch einen etwas diffusen, systematisch
nicht ganz kohärenten Eindruck (leider fehlt auch eine
Zusammenfassung; als Leseprobe empfehlenswert: III, 127).
Theologisch läßt es Fragen offen: auch Syntax, Orthographie
und Druckgestalt überzeugen nicht ganz. Als Beitrag zur philosophischen
Ästhetik hat es dennoch Bedeutung, wobei deren
Offenheit für eine theologische Deutung vom Autor durchaus
überzeugend aufgezeigt wird.

München Waller R. Dietz

Henry. Michel: Die Barbarei. Eine phänomenologische Kul-
lurkritik. Aus dem Franz. übers, u. eingel. von R. Kühn u. I.
Thireau. Freiburg-München: Alber 1994. 397 S. 8« = Alber-
Reihe Philosophie. Pp. DM 89,-. ISBN 3-495-47769-1.

„Wir treten in die Barbarei ein." (75) „In Wirklichkeit handelt
es sich nicht um eine Kulturkrise, sondern ausdrücklich um die
Zerstörung der Kultur." (78) „Jetzt aber vollzieht sich vor uns,
was sich in der Tat noch nie ereignet hat: die wissenschaftliche
Explosion und der Untergang des Menschen."... „Warum und
wie ein bestimmter Wissenstyp, der zur Zeit Galileis entstand
und seitdem als das einzige Wissen betrachtet wurde... den
Umsturz aller anderen Werte hervorbringt - und damit den
Umsturz der Humanitas des Menschen sowie der Kultur, das
kann ganz und gar einsichtig werden." (79) Dies aufzuzeigen
stellt sich das Buch im Einleitungskapitel zur Aufgabe.

Methodisch wird die Phänomenologie Husserls spezilisch
verwandelt: Zwar wird wie beim späten Husserl von der Lebenswelt
her zu denken versucht, aber nicht um Wissenschaft
zu begründen, sondern um gerade alles Intentionale, auf einen
objektiven Gegenstand Gerichtete auszuschalten, mit in die
phänomenologische Reduktion zu nehmen, um so zum reinen,
subjektiven Leben selbst vorzustoßen. „Wir als Phänomenolo-
gen sind bemüht, eine radikale Phänomenologie der Subjektivität
als lebendiger Subjektivität zu konstruieren, das heißt das
Sein, das wir wirklich sind, über die Erscheinung hinaus zu

bewahren." (189-190) „Das Wissenschaftswissen ist grundsätzlich
objektiv." (83) Anders verhält es sich mit dem phänomenologisch
erhellten wirklichen Leben......welches das absolute

phänomenologische Leben ist, dessen Wesen in der Tatsache
selbst besteht, sich zu fühlen oder sich selbst zu erfahren, und
nichts anderes ist - was wir auch eine Subjektivität nennen werden
." (83) Damit ist schon von der Methode her der Subjektvergessenheit
der galileischen Wissenschaftswissen die Subjektivität
des absoluten Lebens, wie es noch vor aller intentionalen
Objektivierung besteht und diese erst aus sich hervorbringt, entgegenstellt
.

Schon damit zeigt sich, daß die weltanschauliche Grundhaltung
dieser Kulturkritik einseitig vitalistisch ist: Das Lehen als
die absolute Subjektivität ist schlechthin alles. Dieser Gedanke
wird so konsequent durchgeführt, daß selbst die Objektivierungen
der galileischen Wissenschaft in ihrer Lebensfeindlichkeit
nicht anders als im Leben selbst begründet gedacht werden können
, freilich als eine Krankheit im Leben (Kap. 4). Leben ist als
immer noch vor aller Intentionalität stehend nicht primär Theorie
, sondern wesentliche Praxis und damit primär Bedürfnis und
Aktivität. In dieser Aktivität affiziert sich das Leben selbst und
bringt damit in dieser seiner Selbstaffektion alles iinmanent in
sich selbst hervor, auch seine eigene Verneinung in der Barbarei
. „Ein solches von der Barbarei affiziertes Sein ist daher
eine Krankheit des Lebens selbst." (1 12-113)

Aber was ist nun Kultur und dann Zerstörung der Kultur.
Barbarei? In dieser Selbstaffektion kann und will sich Leben
selbst steigern: „...Das Tätig sein als .Aktivität' in seiner spontan
selbständigen Form ist nichts anderes als die Steigerung, als
die Verwirklichung des Bedürfnisses zu seiner Vollendung."...
„Die höheren Bedürfnisse, die aus der Natur des Bedürfnisses
selbst folgen, ergeben die ausgebildeten Kulturformen, die in
der Kunst, Ethik und Religion vorliegen."... „Kunst, Ethik und
Religion wurzeln... im Wesen des Lebens, so daß der Grund
ihres Auftauchens demjenigen verständlich wird, der in diesem
Wesen zu lesen weiß." (112) Die Barbarei ist dann die Verneinung
dieser Selbststeigerung des Lebens, damit die Verneinung
der Kultur und damit die Verneinung des Lebens überhaupt. Als
Verneinung des Lebens widerspricht sie sich aber selbst, denn
sie ist selbst nur aus dem Leben hervorgegangen, weil es nur
das Leben ist, was etwas hervorbringen kann, also auch seine
eigene Verneinung. Durch diesen ihren Selbstwiderspruch wird
nun die Barbarei von allem Sinn leer; in ihr wird deshalb alles
negativ, destruktiv, sinnlos: deshalb hat in ihr nichts mehr
Bedeutung und Sein, sondern alles rollt in die Bedeutungslosigkeit
, in die Leere, ins Nichts dahin, um diesen Bedeutungsmangel
doch gerade durch eine Scheinwichtigkeit zu kompensieren
zu versuchen.

Dieses Wegrollen aller Gehalte zeigt sich einmal signifikant
im Fernsehen, das als typische Form der Barbarei dargestellt
wird. Ein Bild nach dem anderen rinnt ins Wesenlose, in den
Tod hinweg, um einem anderen Bilde Platz machen zu können,
und jedes Bild tritt um so mehr mit dem Anspruch der Wichtigkeit
auf, um seine Vernichtung im nächsten Augenblick zu
überspielen. Ohne das Fernsehen hat der Mensch der Barbarei
am nächsten Tag keinen Gesprächsstoff mehr, und damit ist das
Wesenlose, gleich wieder ins Nichts Versinkende und obendrein
von den Redakteuren Ausgesuchte und damit Manipulierte
sein einziger Gesprächsinhalt. (Kap. 6) Diese Barbarei des
Fernsehens wird als Ergebnis der bloß objektiv denkenden galileischen
Wissenschaft und vor allem deren praktischer Folge,
der Technik, verslanden. Als zweite signifikante Gestalt der
modernen Barbarei erscheint die Zerstörung der Universität
(Kap. 7). Der ausschließlich objektive Lehrgehalt der galileischen
Wissenschaft scheidet jedes subjektive Lebenspathos aus
dem Wissen aus und vernichtet damit das Wissen selbst, das
immer das Leben zur Grundlage hat und damit nur wirklich