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Ausgabe:

1995

Spalte:

424-425

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Strübind, Kim

Titel/Untertitel:

Tradition als Interpretation in der Chronik 1995

Rezensent:

Willi, Thomas

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Theologische Lileraturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 5

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Beim ius talionis muß unterschieden werden zwischen einer
materiell-identischen und einer ideell-analogen talio nach dem
Prinzip similia similibus (443). So beschreibt Sch. ein principi-
um talionis, nennt dies „Vergeltung" und versteht darunter:
"Die Überzeugung, daß die Tat x einen Wert vertritt, die nur
durch einen Gegenwert in der Form einer Tat x1 adäquat kompensiert
werden kann. Die Gleichwertigkeit von x1 soll soviel
wie möglich Gleichartigkeit enthalten. Damit ist aber x1 nicht
identisch mit x." (459).

Anhand dieser Differenzierungen werden Kochs Argumente
ein letztes Mal abgewogen. Mit Beispielen aus Kochs eigenem
Werk, wie den Begriffen „Freiheit" und „Geschichte", wird
gezeigt, daß Konzepte und Benennung nicht identisch sind.
Damit kann die „lexikalische Lücke" kein Baustein für die
Theorie einer „schicksalwirkenden Tatsphäre" sein (469). Bei
dem Argument der doppelten Bedeutung hebräischer Begriffe
stimmt Schuman zwar dem Vorhandensein von Polysemie und
Homonymie zu, weigert sich aber, eine sprachliche Eigenart auf
eine weltanschauliche Eigenart zurückzuführen (470). Das dritte
Argument Kochs über die Dingähnlichkeit alttestamentlicher
Vorstellungen und der damit verbundenen Ontologie wird mit
der metaphorischen Funktion der Ausdrücke, die erst eine plastische
Sprache ermöglicht, gekontert.

Der Gewinn der These Kochs liegt nach Sch. bei der Infragestellung
der Selbstverständlichkeit des Gottesbildes des AT
mit JHWH als höchstem Richter und der daraus entstandenen
..lundomanie". Ein Gewinn ist auch die Beschreibung einer
synthetischen Lebensauffassung des alten Israel. Negativ muß
gesagt werden, daß Koch zuviel beweisen wollte. Seine drei
Hauptargumente sind nicht stichhaltig, er versucht die göttliche
Vergebung und die Reue Gottes zu dingähnlich zu beschreiben
(503).

Sch. hat ein wichtiges Buch geschrieben, in dem er den Totalitätsanspruch
der Kochschen These durch ein differenzierteres
teils-teils ersetzt. Seine Argumentation auf der Kanonebene
führt aber dazu, daß er letztendlich auch nur Gegenbeispiele
geben kann, die historisch nicht differenziert werden können.

Unzureichend ist die Arbeit auf der religionsgeschichtlichen
Ebene. Hier fehlen u.a. die wichtigen Studien von Assmann-
Die Religionsgeschichte Ägyptens von Klaus Koch4 selbst
konnte Sch. noch nicht kennen, so auch nicht die Korrektur des
Vergeltungsbegriffes, wie sie von Janowski vorgeschlagen wurde
. 5 Diese zeigen aber, daß die Diskussion nach dem wichtigen
Buch von Sch. noch längst nicht verstummt ist.6

Groningen Ed Noort

1 ZThK 52 (l955),l-42 = K. Koch (Hrsg.), Um das Prinzip der Vergeltung
in Religion und Recht des Alten Testaments. WdF CXXC, Darmstadt
1972, 130-180 = K. Koch. Spuren des hebräischen Denkens. Beitrage zur
alttestamentlichen Theologie, Gesammelte Aufsätze, Bd.l. hrsg. von B.
Janowski, M. Krause. Neukirchen-Vluyn 1991,65-103.

- S.508: „..das letzte Gericht, die göttliche Rache und Vergeltung sind
eine tiefere und radikalere Lösung des Welträtsels als das Kreuz von Golgatha
, das Opfer der Versöhnung und die göttliche Liebe. In der Liebe wird
das Welträtsel ertragen, in der Vergeltung wird es gelöst." Diese typisch
.Rulerianischen", im deutschen Sprachraum leicht anstößigen Sätze sollten
erst bewertet werden, nachdem man den Gang durch das ganze Buch abgeschlossen
hat.

* J. Assmann, Vergeltung und Erinnerung, Fs. W. Westendorf. Bd.2,
Göttingen 1984. 687-701; J. Assmann. Ma'at. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit
im Alten Ägypten, München 1990; W. Helck. Maat - Ideologie und
Machtwerkzeug, in: Fs. K. Koch 1991. 11-19.

* K. Koch. Geschichte der ägyptischen Religion. Von den Pyramiden bis
zu den Mysterien der Isis, Stuttgart-Berlin-Köln 1993.

' B. Janowski, Die Tat kehrt zum Täter zurück. Offene Fragen im
Umkreis des „Tun-Ergehen-Zusammenhangs", ZThK 91 (1994), 248-271.

ft J. Hausmann, Studien zum Menschenbild der älteren Weisheit, FAT 7,
Tübingen 1994; K.J. Illmann, s.v. s Im, ThWAT VIII/1-3. 1994.93-101.

Strübind, Kim: Tradition als Interpretation in der Chronik.

König Josaphat als Paradigma chronistischer Hermeneutik
und Theologie. Berlin-New York: de Gruyter 1991. XIII, 220
S., 1 Falttaf. gr.8° = Beihefte zur Zeitschrift für die alttesta-
mentliche Wissenschaft, 201. Lw. DM 98,-.

Die bei P. Welten in Berlin entstandene und mit Schwung geschriebene
Dissertation zeigt, daß die Untersuchung der spätalt-
testamentlichen Geschichtsschreibung zu den literaturgeschichtlich
und theologisch anregendsten Feldern heutiger
Beschäftigung mit dem Alten Testament gehören kann. Sie
gliedert sich in umfangmäßig zwei genau gleich große Hälften
von je 100 Seiten. Die erste ist dem derzeitigen Forschungsstand
gewidmet und sucht die Historiographie der Chronik im
Kontext der altorientalischen und alttestamentlichen Geschichtsschreibung
zu bestimmen. Die Differenz zum DtrG als
einer „Geschichte des schöpferischen Wortes Jahwes" (G. von
Rad) bzw. als einer „Ätiologie des Landverlustes" (M. Weip-
pert) schält sich heraus: Wenn beim DtrG die drängenden Fragen
der Gegenwart nach einer Antwort aus der Geschichte
rufen, so begegnet die Chronik dem drohenden „Geschichtsver-
lust" mit „Tradition" in Form von „Interpretation" (99f). Aus
den Kapiteln 3 und 4 des ersten Teils - so nach Auflösung der
den Gedankengang etwas zu sehr in einzelne „Spols" zer-
haekenden Dezimalklassifikation - geht sehr schön der Abstand
der neuen Forschungssituation hervor, etwa im Vergleich zu M.
Noths ein halbes Jahrhundert früher erschienenen Überliefe -
rungsgeschichtlichen Studien I, wo die Chronik kaum mehr als
ein bloßer Schatten oder Abklatsch des DtrG ist. Das hängt
auch damit zusammen, daß die These eines ..chronistischen
Geschichtswerks" bis in die späten 6()er Jahre (S. Japhet) praktisch
kaum hinterfragt wurde. Dagegen hält K. Strübind nun
fest: „Die Chronik ist apriori aus sich selbst und nicht von Esr-
Neh her zu erklären." (36) Auch das einst so belieble Schema
von „Theokratie und Eschatologie" (O. Plöger) trug dazu bei,
daß die Chronikforschung im deutschsprachigen Raum „eine
Randexistenz" führte (3f. 44).

Gegen solche Marginalisierung und Verengung entwickelt
St. nun ein Verständnis der Chronik, das er formal mit einer -
Zeiten und Epochen umspannenden - „Tradition als Interpretation
" (Titel, 100 u.ö.), material als „eschatologischen Panisra-
elitismus" (33. 44 mit Anm. 311. 55f. 203, nach Hinweisen bei
H. G. M. Williamson) umschreibt. Damit ist ein, wie es dem
Rez. scheint, gültiges Resultat der Untersuchung der chronistischen
Josaphat-Darstellung des zweiten Hauptteils vorweggenommen
. Sie behandelt einleitend den „chronistischen und
historischen Josaphat" (103-133), gliedert sodann die chronistische
Geschichtsschreibung über die Josaphatepoche in die 3
Phasen der Voraussetzungen der Regierungszeit (2Chr 17,1-
19), der Feldzüge Josaphats (2Chr 18,1-20,30) und des „späten
Josaphat (2Chr 20,31-21,1a). Von der Komposition des Stoffes
her bewährt sich für St. „die These, den Chronisten als .Ausleger
' seiner Vorlage anzusehen" (132). Die Darstellung JosphatS
ist selbst im chronistischen Sondergut „nicht Produkt freier
Willkür, sondern beruht auf der Exegese der Vorlage..., vor
allem der Explikation impliziter Gedanken [sc. des DtrG]"
(132). So weiß der Chronist das ihm vorliegende, an sich höchst
disparate Material „zu einem kohärenten Textganzen" zu verbinden
und erweist sich damit, trotz oder eben wegen seines
auslegerischen Vorgehens, als „Autor", und sein Werk ist als
..Kunstprodukt" im besten Sinne des Worts anzusprechen (133).
Die einheitliche Würdigung der nach Vorlage gearbeiteten Partien
und des Sonderguts der Chronik dürfte nach St.s Untersuchungen
einen Schritt näher gerückt sein.

Die in neuester Zeit zum Teil auf textgeschichtlicher Basis
vertretene Sicht der Chronik "as independent literature" (T.
Sugimoto, JSOT 55, 1992, 61-74) bzw. als einer vom DtrG