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Ausgabe:

1995

Spalte:

368-371

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Lindbeck, George A.

Titel/Untertitel:

Christliche Lehre als Grammatik des Glaubens 1995

Rezensent:

Albrecht, Christian

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Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 4

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rie oder evolutionärer Ethik gibt" (81). Aus der Darstellung von
vier Evolutionsmodellen („Mischtheorie aus Soziobiologic und
Synthetischer Theorie", „Neutralitätstheorie". „Theorie kumulativer
Selektion", „Evolution als Selbstorganisationsprozeß",
90) ergibt sich, daß „kein Interpretationsmodell der Mutations-
Selektions-Beziehung die Berechtigung erwies, mehr als regionale
Gerichtetheiten in der Evolution zu postulieren" (99).
Auch der Anpassungsbegriff beziehe sich „im evolutionär-ökologischen
Sinne auf ökologische Nischen und nicht auf Erkenntnis
" (102). So kommt das dritte Kapitel zum Schluß, bei
nüchterner Betrachtung der Evolutionstheorien könne man von
ihnen „kaum einen profilierten Beitrag zu Fragen einer philosophischen
Erkenntnistheorie erwarten" (1 12). Das vierte Kapitel
stellt Ansätze der Evolutionären Erkenntnistheorie in ihrer traditionellen
Form dar (Riedl, Wuketits, Oeser, Vollmer) und
nennt Gesichtspunkte philosophischer Kritik, das fünfte behandelt
die Versuche, Mängel der Evolutionären Erkenntnistheorie
mit Hilfe des Selbstorganisationsparadigmas zu beheben. Verstehe
man „Evolutionäre Erkenntnistheorie als biologisch-kausale
Rekonstruktion der Kognition", dann gehöre die „Auto-
poiesis-Konzeption und der Radikale Konstruktivismus zu dieser
Disziplin" (149).

Gemeinsam ist den neuen Varianten die Verabschiedung der
These vom Realismus der Außenwelt und vom Abbildcharakter
des Erkennens sowie die Einnahme einer konsequenten Beobachterperspektive
bezüglich der Kognition. Was Maturana und
Varela teilweise noch mitmachen (Anpassungsthese, Hypothetischer
Realismus), werde zwar im Radikalen Konstruktivismus
aufgegeben, für den methodischen Zweifel bleibe jetloch das
Problem einer Objektivierung des Beobachters und des Wissens
weiterhin bestehen (180). „So bleibt die objektivistische Besehreibung
auch der Selbstreferentialität unbefriedigend und
wird von der Philosophie nicht als Ersatz für das Thema der
Reflexion anerkannt werden können" (181).

Das sechste Kapitel („Soziobiologic als Ausgangspunkt für
Evolutionäre Ethik") gibt einen Überblick über verschiedene
Ethikbegründungsversuche, entwickelt sechs Ebenen einer
Analyse sittlicher Fragen und behandelt im Anschluß daran die
Ansätze Evolutionärer Ethik (Ausgang von Verhaltensforschung
und Spieltheorie, Evolutionäre Ethik mit dem Anspruch
einer Morallehre). Im Kontext einer nicht auf Rechtfertigungsfragen
reduzierten, sondern auch die Ursprungsfrage von Normen
und Werten mit einbeziehenden Ethik leiste eine Evolutionäre
Ethik „einen nicht einmal bescheidenen Beitrag" (219),
weil wir „eine naturale Basis für eine Reihe von sittlichen Werten
begründet vermuten" dürfen, ohne freilich diese im einzelnen
genau angeben zu können (219).

Das siebente Kapitel geht auf die im Zuge einer kausalen
Rekonstruktion von Kognitionsleistungcn immer mehr relevant
gewordene Gehirnforschung ein. Für die Beschreibung des
Geist-Gehirn-Problems lege es sich nahe, „einen sehwachen
interaktionistischen Dualismus und einen schwachen reduktio-
nistischen Funktionalismus als komplementär anzunehmen und
für je unterschiedliche Aspekte des Geist-Gehirn-Problems als
Interpretationskategorie heranzuziehen" (252).

Das abschließende Kapitel kommt auf die „Aufgabe der Philosophie
in einem interdisziplinären Forschungsprogramm
Erkenntnistheorie" (254) zu sprechen. Diese bestehe angesichts
der zunehmenden Tendenz, technologische Kategorien zur
Auslegung menschlicher Phänomene heranzuziehen, darin.
Evolutionäre Erkenntnistheorie und evolutionäre Ethik in einem
interdisziplinären Gespräch so zu positionieren, „daß unverzichtbare
und unreflektierte Formen des Reduktionismus jeweils
unterschieden werden, um ein Menschenbild zu verteidigen
oder erst zu entwickeln, welches der Kategorie des Personalen
auch gerecht wird" (260). In diesem Zusammenhang sei
es erforderlich, Fragen des Apriori nicht an die Biologie zu delegieren
, sondern im angestammten Bereich des Methodischen
zu belassen, und den Kritischen Rationalismus mit seiner These
von der Hypothetisierung alles Wissens zu überwinden und
transzendentalphilosophische Fragestellungen zu berücksichtigen
(26lf). Die Evolutionäre Erkenntnistheorie besitze den
Vorzug einer „deutlich naturwissenschaftlichen Profilierung der
traditionellen erkenntnistheoretischen Fragestellung" (263). Sie
müsse „im Sinne eines Forschungsprogramms formuliert werden
, welches Ergehnisse der Neurowissenschaflen und der
COgnitive Science mit einbezieht, ohne zu weitgehenden, insbesondere
kausalen Reduktionismen zu verfallen oder sieh im
Aufzeigen von funktionalen Äquivalenten /u erschöpen" (263).

Das Buch referiert eine Fülle von Theorienansätzen unterschiedlichster
Provenienz. Hervorzuheben sind die klar aufgebaute
historisch-systematische Hinführung zum naturalistischen
Ausgangspunkt der Evolutionären Erkenntnistheorie, die Darstellung
der verschiedenen Evolutionsmodelle, die I lerausarbei-
tung der Untersuchungsebenen ethischer Fragestellungen sowie
die Übersicht über die Lösungsansätze des Leib-Seele bzw.
Gehirn-Geist-Problems. In der Art der dargebotenen Fülle liegt
jedoch auch ein Problem, weil es sich fragt, was man unter
einem Lehrbuch verstehen möchte. Schon die Voraussetzung
für die Abfassung eines Lehrbuches - hinreichend abgeschlossene
Disziplin - erscheint angesichts der Tatsache fraglich, daß
unter den Vertretern der Evolutionären Erkenntnistheorie keine
einhellige Meinung über deren Anspruch herrscht. Doch dessen
ungeachtet zahlt der Autor m.E. einen zu hohen Preis für das
Dargebotene - vorausgesetzt, ein Lehrbuch hat u.a. die Aufgabe
, in einen Gedankengang in entsprechender Differenziertheit
argumentativ einzuführen.

Unter dieser Voraussetzung erweckt das Buch weniger den
Eindruck eines Lehrbuchs denn den einer Aneinanderreihung
von Behauptungen. Der Druck, möglichst viele Autoren zu ihrem
Wort kommen zu lassen, läßt so gut wie keinen Raum mehr für
die Erklärung der von ihnen verwendeten Terminologie. Man
muß bereits voll über den Diskussionsstand informiert sein, um
sich in der terminologischen Vielfalt halbwegs auszukeimen. Der
Leser täte sich leichter, würde er weniger mit Standpunkten konfrontiert
, und würden ihm statt dessen die Wege und methodischen
Voraussetzungen aufgezeigt, auf denen die diversen Resultate
erzielt werden, und würde er in die sachliche Problematik
eingeführt, auf die sich zentrale Begriffe beziehen (das Nachschlagen
im Glossar kann dafür kein adäquater Ersatz sein). Worin
besteht z.B. der Unterschied von Vernunft und Kognition?
Was ist der interne Realismus? Und wenn es z.B. heißt, die Vernunft
sei ein Konstrukt (21), wären weiterführende Erläuterungen
hilfreich. (Ist die Vernunft nichts anderes als ein Konstrukt?
Und wenn nein, wer nimmt die Konstruktion der Vernunft vor?)
Manchmal tut man sich schwer herauszufinden, was referierte
und was des Autors eigene Meinung ist. /.Ii. S. 133. I36f. - Das
Buch sollte sich vielleicht doch nicht Lehrbuch nennen, weil seine
Dienste m.E. auf einer anderen Ebene liegen: für denjenigen
hilfreich zu sein, dem es um die Kenntnisnahme und das Vergleichen
von Positionen zu tun ist.

Wien Günther Pöltner

Lindbeck, George A.: Christliche Lehre als Grammatik des
Glaubens. Religion und Theologie im postliberalen Zeitalter.
Mit einer Einleitung von H. G. Ulrich u. R. Hütter. Aus dem
amerik. Engl, von M. Müller. Gütersloh: Kaiser; Gütersloh:
Gütersl. Verlagshaus 1994. 212 S. 8° = Theologische Bücherei
, 90. Kart. DM 78.-. ISBN 3-579-01943-0.

Auch Neuanfänge haben ihre Geschichte. 1984 legte L. der
amerikanischen theologischen Öffentlichkeit das ebenso