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Ausgabe:

1995

Spalte:

261-263

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Bösch, Michael

Titel/Untertitel:

Søren Kierkegaard 1995

Rezensent:

Dietz, Walter R.

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Theologische Literatur/.eitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 3

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gung von .Ostarbeitern' das Verhalten der BK-Pastoren, die
verstorbene Zwangsarbeiter beerdigen wollten. .zynisch' und
wertet es als bedeutungslos ab. denn die BK-Leulc setzten sich
für die Zwangsarbeiter erst ein, als sie schon tot waren. S.s
Urteil wird aber dem Streit und den Beteiligten nicht gerecht.
Denn die öffentliche Beerdigung mit Glocken und Dienst des
Planers verbürgte die Anerkennung des Toten als anerkanntes
Mitglied der menschlichen Gemeinschaft - dem verstorbenen
.Oslarbeilcr' wurde wieder die menschliche Qualität zugesprochen
, die die Nationalsozialistischen ihm gerade absprechen
wollten. Weil dies allen Beteiligten klar war. beschäftigte der
•Streit Kirchenleitung, Kultusministerium und Gauleitung. Erst
wenn man die religiöse Dimension einbezieht, wird der beharrliche
Widerspruch verständlich und läßt sich dann nicht mehr
mit Zynismus als abstrakte Rechtsposition abtun. In ähnlicher
Weise besehreibt S. die Proteste von Landesbischof
Wurm gegen die Euthanasie im Juli 1940; sie waren für ihn
..von vornherein von begrenzter Wirkung und hatten nicht
zuletzt auch eine Alibifunktion für die Zeit nach dem immer
deutlicher absehbaren Zusammenbruch des NS-Regimes". Dieses
Urteil ist abwegig, denn ilie Proteste zeigten ja durchaus
Wirkung und entstanden, gerade als Hitler-Deutschland nach
dem Sieg über Frankreich auf der Höhe seiner Machtentfaltung
zu stehen schien. Bei Wurm war nicht die Erwartung des baldigen
Zusammenbruchs motivierend, sondern der religiöse
Impuls, der sich aus der Heiligkeit des Lebens speiste. Ihm
kann S. keine Kelvanz zusprechen, also denunziert er ihn, um
die Allgemeingültigkeit seines negativen Urteils festhalten zu
können. Damit überspannt er den Bogen seiner Beweisführung,
sie wird auch da fragwürdig, wo sie doch gute Gründe für sich
beanspruchen kann. Immerhin ist das Buch anregend - zu weiteren
Forschungen und anderen Wertungen.

Hannover Hans Otte

Philosophie, Religionsphilosophie

Büsch, Michael: Stfren Kierkegaard: Schicksal - Angst -
Freiheit. Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 1994.
421 S. 8» = Abhandlungen zur Philosophie. Psychologie.
Soziologie der Religion und Ökumenik, 47. ISBN 3-506-
70197-5.

Im Zentrum der Untersuchung von Michael Bosch (geb. 1958)
steht der Versuch einer Verhüllnisbcstimmung von Schicksal,
Freiheit und Vorsehung bei S. Kierkegaard (im folgenden: SK),
insbesondere in seiner Pseudonymen Schrift Der Begriff Angst
(Im folg.: BA) (27). Dabei kann B. auf den Konsens innerhalb
der neueren SK-Forschung rekurrieren, die das Freiheitsproblem
ins Zentrum der Auslegung rückl (vgl. Malantschuk 1971.
Figal 1980. Deuser 1985. Disse 1991, Dietz 1993). In der Relation
von Freiheit und Angst sieht B. ein ..systematisches Zentrum
des Kierkegaardschen Philosophierens" (21). Auf der Basis
dieser These entwickelt B. eine profunde und auch im
Umfeld sehr kenntnisreiche Darstellung, die freilich den Charakter
einer wissenschaftlichen Monographie hat. Deshalb fehlt
es nicht an Fußnoten, in denen andere Positionen aulgegriffen,
diskutiert und kritisiert werden (nicht in Form polemischer Abfertigung
, sondern durchaus sachlich und behutsam). Wem dies
alles zu speziell ist. der tut gut daran, wenigstens die Einleitung
(13-28) zu lesen. Sie bietet in Kürze eine methodisch durchdachte
Hermeneutik, die u.a. Existenzbegriff (I6ff). indirekte
Mitteilung (21 ff. vgl. 3241*). Pseudonymität (22ff) und System/
Geschlossenheit (I7f, 27f) behandelt. Es folgen zwei weitere

Teile II (29-199) und III (200-403), die das Verhältnis von
Schicksal und Freiheit bzw. Vorsehung analysieren, einmal in
BA (29-199), dann im restlichen ..üsthetiscfT-pseudonymen
Werk (216-324). Anschließend werden autonyme Schriften
analysiert (unter Berücksichtigung biographischer Aspekte:
324-395). Das Faz.il (395-403, sollte besser IV. heißen) bezieht
sich primär auf Entweder/Oder (1843=EO). Zum Schluß folgt
ein sehr aktuelles und übersichtlich gestaltetes Literaturverzeichnis
(405-417) sowie ein Personenregister (418-421).

Zunächst zu Teil Q, der sich auf das Werk BA konzentriert
(Tippfehler 29: 1844, nicht 1848 erschienen; der Vf. will BA
psychologisch, nicht theologisch deuten, vgl. Anm. 519; S. 294,
365). B. interpretiert die Angst als den „psychologischen Ausdruck
für die Gefährdetheit der Aufgabe, sich selbst in Freiheit
zu bestimmen" (41). Die in BA gelieferte ..Phänomenologie der
Unfreiheit" versteht sich als ..Voraussetzung der Freiwerdung
des Menschen" (40). In der Angst manifestiert sieh die Ohnmacht
der Freiheit gegenüber Schicksal (vgl. Heidentum) und
Schuld (vgl. Judentum). Aber nicht das Schicksal selber, sondern
die sich z.B. im Orakel manifestierende Schicksalsgläubigkeit
depotenziert und lähmt die Freiheit (1571). Christlicher
Versöhnungs- und Vorschungsglaube verhelfen der Freiheit zu
sieh selbst, insofern die eigene Schuld und Kontingenz annehmbar
wird, so daß sie sich nicht mehr „einer fremden Macht ohnmächtig
gegenüber sieht" (161). Das Schicksal ist an sieh gar
keine objektive Macht, sondern Angst-Projektion einer sich
selbst verstellten Freiheit (127, 142, 153). „Der Schicksalsglaube
ist die zweideutige Selbstwahrnehmung der eigenen Bedingtheit
als unverständlich-unbestimmte Vorbestimmung"
(142). Zwar gibt es wirklich tragische Schuld und unberechenbares
Schicksal, aber beide ändern nichts daran, daß die Selbstverfehlung
auf den Einzelnen selber zurückgeht (155, trotz Erbsünde
162). Die Gefahr der „Sichtverblendung" (161) und
„Selbstverstellung" (324) durch Angst liegt darin, daß sie zur
Resignation in die eigne Ohnmacht führen kann, statt das Frei-
heitspotential anzustacheln. Obwohl sich B. der Ambivalenz
der Angst bewußt ist, betont er ihre „in sich" (!) „befreiende
Funktion" (Anm. 409. gegen Dietz 1993) als Basis einer ..Pädagogik
der Angst" (177ff)- Das Befreiende liegt darin, daß die
Angst den Menschen von endlichen Fixierungen läutert und so
„entsichert" vor sich selber stellt. Dabei wirken Angst und
Glaube zusammen, nicht gegeneinander.

Stärker als Hegel beton) SK die Kontingenz und Zufälligkeit
des Daseins (130f, 143), dessen Unverfügbarkeit. Undurchschaubaren
und teilweise Unabänderlichkeit heidnisch als
Schicksal, theologisch als Vorsehung gedeutet wird. Schön
macht B. I72f deutlich, wie das Freiheitsverständnis SKs auf
seinem Verständnis der Allmacht Gottes beruht: Kritik der
Omnipotenzvorstellung: „Allmacht der Liebe als absolute
Zweckfreiheit"(Kodalle; B. deutet Anm. 404 gegen Dietz 1993/
CR 1848 [20. I35| die Selbstzurücknahme Gottes dabei als
ontologisch-prinzipielle Selbstbeschränkung >.

Es folgen Überlegungen zu SKs Geniebegriff (183-199), ferner
zum Schicksalsbegriff in den Erstlingsschriften (202-215),
sodann im „ästhetischen" Schrifttum (216-293, vgl. Anm. 614)
und bei Climacus (293-324). E/O wird in enger Anlehnung an
Grcve (1990) interpretiert (218-250): Während der Ästhetiker
(A) in unterschwelliger Angst (Langeweile. Überdruß) die Unverfügbarkeit
und Unbestimmtheit des Lebens erfährt (222),
macht der Ethiker. Gerichtsrat Wilhelm, fast schon zwanghaft
optimistisch die Vorsehung zum Leitmodell eines harmonisti-
schen Lebensprojektes. Er will ..verantwortlicher Redakteur" seines
Lebens sein (zit. 245). hat dabei aber nur einen approximativen
Begriff von Erbsünde (249. 323: aufgrund dieser könne kein
Mensch „sich selbst durchsichtig" werden). So konzediert Wilhelm
, wie B. treffend resümiert, zwar .„ein bißchen' Unfreiheit",
aber ihm „fehlt der psychologische Blick in die Abgründe