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Ausgabe:

1993

Spalte:

1075-1077

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Voigt, Kerstin

Titel/Untertitel:

Otto Haendler 1993

Rezensent:

Jenssen, Hans-Hinrich

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1075

Theologische Literaturzeitung 118. Jahrgang 1993 Nr. 12

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Akademie der Erzdiözese Freiburg. Dem Hg. (Professor für
Klinische Psychologie in Basel) ist dafür zu danken, daß er die
Vorträge auch einem breiteren Publikum zugänglich macht. Sie
geben zum Teil sehr persönliche Erfahrungen und Enttäuschungen
wieder. Solche Lebenszeugnisse, zu denen gut ausgewählte
Gedichte, Roman-Passagen und autobiographische Aufzeichnungen
kommen, entlassen den Leser nicht aus der Konfrontation
mit der alltäglichen Diskriminierung homosexueller Menschen
.

Die Ausführungen U. Rauchfleischs über die Gründe der Diskriminierung
können die Nachdenklichkeit vertiefen. Jedoch
müßte die Reichweite seiner zentralen Annahme, Homosexualität
sei deshalb ein Skandalon, weil sie die sonst gültigen gesellschaftlichen
Normvorstellungen in Frage stelle, wohl eingegrenzt
werden. Für die meisten ist doch heute die Pluralisierung
der Lebensformen schon keine beunruhigende Tatsache mehr.
Sollte dann nicht die „Angst'" vor der Homosexualität häufig eine
(vorsichtiger, auch weniger mundtotmachend formuliert) sehr
spezielle „Besorgnis" darüber sein, daß Promiskuität als Lebensstil
(Hinweis darauf: 32f, 50) dem Erziehungsziel einer verbindlichen
Partnerschaft entgegenwirkt? In Wunibald Müllers Beitrag
findet man eher Verständnis dafür (85). Und wäre die Verführungsthese
auch auf dieser Ebene widerlegbar?

Als eigentliche Brückenbauer erweisen sich die Theologen
Johannes Gründel und W. Müller. J. Gründels Beitrag ist schon
wegen seiner Darstellung der unterschiedlichen Denktypen und
Ansätze einer theologischen Ethik lesenswert. Sein Vorschlag
an die katholische Kirche geht dahin, nicht für jeden einzelnen
ehelichen Akt die Offenheit auf Zeugung hin zu fordern: Dann
könnte auch im homosexuellen Bereich eine Freundschaft und
ihre erotisch-sexuelle Bekundung Ausdruck personaler Liebe
und damit sittlich verantwortbar sein (62). W. Müller äußert
sich ganz ähnlich mit Bezug auf die Würzburger Synode (80f).

Bern Hermann Ringeling

Voigt, Kerstin: Otto Haendler - Leben und Werk. Eine Untersuchung
der Strukturen seines Seelsorgeverständnisses. Frank-
furt/M.-Berlin-Bern-New York-Paris-Wien: Lang 1993. 354
S. 8o = Erfahrung und Theologie, 21. Kart. DM 89,-. ISBN 3-
631-45188-1.

Es ist ein Verdienst von Walter Saft, Kerstin Voigt
(Jahrg. 1959) zu einer umfassenden Darstellung des Lebenswerkes
Otto Haendlers (1890-1981) angeregt zu haben, denn
unzweifelhaft entspricht die bisherige Rezeption Haendlers
nicht dem, was für die Zukunft noch bei ihm zu holen sein dürfte
. Das hängt wohl damit zusammen, daß Haendler zwar historisch
gesehen das Verdienst zukommt, wesentliche Erkenntnisse
und Einsichten der Praktischen Theologie früher als andere
vertreten, also „Pionierdienste" geleistet zu haben, daß es aber
seinem ausgeglichenen und auf Berücksichtigung möglichst
aller wesentlichen Gesichtspunkte bedachten Wesens widersprach
, sich durch einseitige und schroffe Darstellungen oder
gar Polemik Gehör zu verschaffen. Inzwischen wird nun aber
gerade diese Einseitigkeit, mit der Anliegen, die schon Haendler
vertrat, durch andere zur Geltung gekommen sind, als Problem
und Defizit empfunden, so daß eine Rückbesinnung auf
die ausgewogene theologische Einbettung dieser Anliegen und
Erkenntnisse bei Haendler zu erwarten steht und hilfreich sein
wird. Das Buch von Kerstin Voigt kommt also m.E. gerade zur
rechten Zeit, um solcher Rückbesinnung einen hoffentlich starken
Impuls zu geben.

Beachtlich ist das erstaunliche Einfühlungsvermögen, mit
dem sich die Vfn., die ja auf Grund ihres Alters nur für wenige
Jahre eine bewußte Zeitgenossin Haendlers war, in seine Persönlichkeit
, in sein Denken und Empfinden, hineinversetzt hat.
Neben einer gesunden Intuition kommt der Arbeit nun aber
auch eine sehr umsichtige, sorgfältige, um Detailtreue bemühte
Arbeitsweise zugute, insgesamt 1228 Anmerkungen sind ein
äußeres Anzeichen dafür.

Das Buch gliedert sich in 5 Kapitel. Im ersten Kapitel wird
der „Lebensweg Otto Haendlers" skizziert (13-26), der den
Sohn des Berliner Generalsuperintendenten über Gumtow/
Priegnitz (1919-1925), Stralsund (1925-1930), Stettin-Kückenmühle
(1931-1935), Neuenkirchen-Greifswald (1935-1950)
nach Berlin führte.

Dann folgt eine Darstellung von „Otto Haendlers Verhältnis
zur Tiefenpsychologie, insbesondere zur .Komplexen Psychologie
' Carl Gustav Jungs" (27-106). Seine Rezeption der Psychologie
Jungs, die unzweifelhaft in seinem Leben eine ganz wesentliche
, prägende Rolle gespielt hat, wird hier vor allem „anhand
zweier Beispiele" dargestellt, nämlich im Hinblick auf seine
große, in drei Auflagen (1941, 1949, 1960) erschienene Monographie
„Die Predigt. Tiefenpsychologische Grundlagen und
Grundfragen" und im Hinblick auf den für Haendler bedeutsamen
Begriff und die Sache der „Wandlung". Eingeordnet in
dieses Kapitel ist auch der Abschnitt „Otto Haendler und Paul
Tillich (1886-1965)" (95-103), wobei beider Verhältnis zum
Symbolbegriff und vor allem zur Tiefenpsychologie und Seelsorge
im Vordergrund steht.

Kapitel 3 „Die Bedeutung und der Beitrag Otto Haendlers für
die Seelsorge" (107-182) und Kapitel 4 „Meditation im Verständnis
von Otto Haendler" (183-223) sind m.E. besonders
gelungen. Man spürt, hier schlägt das Herz der Autorin. Kapitel
4 ist auch deshalb von besonderem Interesse, weil durch die
Übertragung von Tonbandaufzeichnungen von Meditationen,
die Haendler gehalten hat, zusätzliche Einblicke in sein Verständnis
und in seine Praxis von Meditation vermittelt werden.
Hier kommt auch die Prägung Haendlers durch die „Evangelische
Michaelsbruderschaft", der er endgültig 1932 beitrat, zur
Darstellung.

Kapitel 3 behandelt in 4 Abschnitten zunächst sein Seelsorge-
verständnis in Veröffentlichungen und Vorträgen bis 1957, um
sich dann dem Seelsorgeverständnis in seinem „Grundriß der
Praktischen Theologie" von 1957 zuzuwenden, dann werden die
Seelsorgeveröffentlichungen von 1957 dargestellt, und abschliessend
bietet die Autorin eine „Zusammenfassung und Würdigung
".

Kapitel 5 „Schluß" (224-232) faßt wesentliche Ergebnisse
der Arbeit kurz zusammen.

Kritisch bleibt - trotz hoher Anerkennung für das positiv Geleistete
- m.E. nun doch zu fragen, ob die Einordnung der beiden
großen Monographien Haendlers, nämlich seines Predigtbuches
und seines Grundrisses der Praktischen Theologie, als
Unterabschnitte in die Kapitel über Haendlers Verhältnis zur
Tiefenpsychologie, bzw. über seine Bedeutung für die Seelsorge
und die Behandlung der Beziehungen zwischen Haendler
und Tillich im Psychologiekapitel nicht doch zu einer etwas
verkürzten Darstellung beigetragen haben. Beide Monographien
zeigen m.E. ebenso wie eine Reihe kleinerer Veröffentlichungen
- z.B. „Zwischen Glaube und Unglaube", 1966 - welch
großes Gewicht Otto Haendler, der sich politisch und kirchenpolitisch
zurückhielt, einer theologisch durchdrungen und theologisch
reflektierten Analyse der geistigen Situation der Zeit
beimaß.

Dabei ging es ihm darum, hellsichtig dafür zu werden, wie
und wo Gottes Wirken sich im und am Menschen und in Zeitströmungen
vollziehe oder doch zu erahnen sei, um die Menschen
in Predigt und Seelsorge dann daraufhinzuleiten. Dieses
Bemühen um theologisch reflektierte und gedeutete Zeitgenossenschaft
ist etwas, das Haendler und Tillich sehr verbindet,
wobei beide sich auch immer bewußt darum bemühten, die