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Ausgabe:

1993

Spalte:

1050-1052

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Pleitner, Henning

Titel/Untertitel:

Das Ende der liberalen Hermeneutik am Beispiel Albert Schweitzers 1993

Rezensent:

Jenssen, Hans-Hinrich

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Theologische Literaturzeitung 118. Jahrgang 1993 Nr. 12

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schlugen sich 1844 endgültig. Die Veröffentlichung seines ersten
wissenschaftlichen Werkes „Das nachapostolische Zeitalter in
den I lauptmomenten seiner Entwicklung" (1846), eine zusammenhange
Darstellung der frühen Kirchengeschichte aus der
Sicht der Tübinger Schule, muß auf diesem Hintergrund gesehen
werden. Dieses Buch „schloß seinen Verfasser nicht nur von
württembergischen Lehrstühlen aus" (152), es war für ihn auch
der Endpunkt seiner theologischen Studien. Alle Veröffentlichungen
Schweglers werden vom Vf. auf insgesamt ca. 100 Seiten des
Buches inhaltlich und in ihren Wirkungen dargestellt.

Auch nach seiner fünfmonatigen Italienreise (Beschreibung in
Teil 5) im Jahr 1846 gab es für Schwegler keine Aussicht auf
feste Anstellung. Teil 6: Neue Arbeiten - alte Probleme (1846-
1847) berichtet über drei Veröffentlichungen Schweglers, wohl
„Brotarbeiten" (193): sein Kommentarwerk zu Aristoteles' Metaphysik
; eine Geschichte der Philosophie für Brockhaus' Enzyklopädie
der Wissenschaften und Künste und die Herausgabe
der Clementinischen Homilien. Hoffnungen auf eine theologische
Professur (Zürich) bzw. auf eine philologische (Tübingen)
erfüllten sich nicht. Schwegler blieb einzig das kleine Amt des
Stiftsbibliothekars (ab 1848) als regelmäßige Unterhaltsquelle.
Der Vf. gibt in diesem Abschnitt gute Einblicke sowohl in die
private Situation Schweglers als auch in die der Tübinger akademischen
Kreise des Vormärz.

Teil 7: Revolution in Tübingen (1848) beschreibt, welche Aussichten
für Schweglers Fortkommen die veränderten Machtverhältnisse
mit sich brachten. Im Juli erhielt er seine Berufung in
eine a.o. Professur für klassische Philologie in Tübingen, lehnte
dafür die Redaktion eines neuen politischen Organs der liberalen
Kräfte in Stuttgart ab und zog sich überhaupt von politischem
Engagcmenl zurück. Mitte 1848 stellten die „Jahrbücher der
Gegenwart" ihr Erscheinen aus finanziellen Gründen ein.

Die letzte Periode in Schweglers Leben: Teil 8: Philologie in
Tübingen (1849-1857) ist geprägt von intensiver Arbeit an seiner
(unvollendet gebliebenen) „Römischen Geschichte" (3 Bände
, 1853-1858; vom Vf. S. 244-284 dargestellt), die ihm jedoch
in Tübingen selbst wenig Anklang brachte. Zurückgezogen vom
geselligen Leben, allein und unter dürftigen häuslichen Umständen
lebend, wuchs Schweglers Isolation. Er zog sich „ins wissenschaftliche
Arbeiten ohne Maß" (292) zurück und starb
plötzlich, im Alter von nur 37 Jahren, am 5. 1. 1857.

Über die Darstellung des rein biographischen Materials hinaus
gelingt es dem Vf., aufzuzeigen, in welcher Weise Schwegler
an einer breit angelegten wissenschaftlichen Erfassung der
Welt mitwirkte und auf welchen verschiedenen Gebieten der
Wissenschaft und Publizistik er arbeitete. Darüber hinaus zeichnet
er ein lebendiges Bild der Umgebungen, die Schweglers Persönlichkeit
prägten.

Für die Darstellung hat der Vf. aus einer Vielzahl von Quellen
geschöpft. Die Arbeit zeichnet sich durch ihre große Detailtreue
aus. Hilfreich ist die Einfügung von Kurzbiographien von nahezu
allen erwähnten Zeitgenossen Schweglers. En passant erfährt
der Leser Wissenswertes über das Schul- und Bildungssystem in
Württemberg und erhält Einblicke in kultur- und zeitgeschichtliche
Hintergründe.

Gut ergänzt wird die Biographie durch einen Anlagenteil (296-
329). der biographisches Material (Zeugnisse, Lehrpläne von
Schweglers Ausbildungsstätten, Verzeichnisse seiner gehörten
und selbst gehaltenen Vorlesungen etc.) und seine Bibliographie
umfaßt.

Es ist zu erwarten, daß die sehr lesenswerte, informative und
mit fachübergreifender Kompetenz geschriebene Darstellung
nicht nur in theologischen Kreisen interessierte Leser findet. Die
Rezn. hält das Buch für eine der gelungensten wissenschaftlichen
Biographien. Man wünscht sich für das 19. Jh. mehr davon.

Jena Kerstin Voigt

Pleitner, Henning: Das Knde der liberalen Hermeneutik am
Beispiel Albert Schweitzers. Tübingen: Francke 1992. XI,
281 S. 8° = Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter
, 5. Kart. DM 78,-. ISBN 3-7720-1884-X.

Der 1990 als Dissertation in Heidelberg angenommenen Arbeit
Hennig Pleitners ist m.E. ein größerer Leserkreis sehr zu
wünschen. Sie stellt uns die liberale Hermeneutik der Jahre von
1896 bis 1913 sehr anschaulich, klar und kenntnisreich vor
Augen. P. macht überzeugend deutlich, wie die Entwicklung
von Heinrich Julius Holtzmann, dem „Lehrer" Albert Schweitzers
, über Johannes Weiß, William Wrede, Hermann Gunkel,
Heinrich Weinel, Adolf von Harnack, Paul Wilhelm Schmiedel,
Ernst Troeltsch, Wilhelm Bousset, Georg Wobbermin, sowie
weitere angesehne Theologen damaliger Zeit und schließlich
Albert Schweitzer in der Tat zu einem „Ende" kommt, nämlich
der Preisgabe der Orientierung am historischen Jesus.

Relativ neu an der Darstellung P.s ist nun, daß er - wie ich
denke - zu Recht hervorhebt, daß die Bestreitung der Historizi-
iät Jesu durch den Karlsruher Philosophen Arthur Drews zwischen
1909 und 1913 die hermeneutischen Konzeptionen der
liberalen Theologen tiefgreifend beeinflußt und verändert hat.
Dies, obwohl seine historische Argumentation auf recht schwachen
Füßen stand, wie nicht zuletzt Albert Schweitzer in seiner
Geschichte der Leben-Jesu-Forschug von 1913 gezeigt hat, und
obwohl oder gerade weil deutlich war, daß sein eigentlicher
Ausgangspunkt nicht ein historischer, sondern ein religionsphilosophischer
war. Das Auftreten Drews hatte eine „katalytische
Wirkung" (179).

P. urteilt: „In der Auseinandersetzung mit den radikalen Kritikern
wie A. Drews haben viele Theologen die ursprüngliche
Orientierung der Theologie an der Historie ganz oder ziemlich
weitgehend aufgegeben" (14). „Die drei größeren hermeneutischen
Entwürfe von Troeltsch, Bousset und Wobbermin, die in
dieser Situation entstehen, messen der Historie keine konstitutive
Bedeutung für Glauben und Kirche mehr zu. Das Ende der
liberalen Hermeneutik ist damit im Jahre 1913 erreicht, auch
wenn das allgemeine Offenbarwerden dieses Endes noch einige
Jahre auf sich warten läßt" (15).

Durch einen interessanten Vergleich von Schweitzers großer
Monographie „Von Reimarus zu Wrede", 1906, mit der zweiten
, veränderten und erweiterten Auflage dieses Werkes, das
1913 unter dem Titel „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung"
erschien, wird deutlich, wie stark auch Schweitzers Hermeneutik
in der Auseinandersetzung mit der Bestreitung der Historizität
Jesu einen entscheidenden Entwicklungsimpuls erhalten hat,
obwohl Schweitzer ja Zeit seines Lebens nicht daran gezweifelt
hat, daß er mit seinem Verständnis Jesu als eines konsequent
eschatologisch denkenden und handelnden Messiasprätendenten
historisch sicheren Boden unter den Füßen hat. P. urteilt: „Die
Hermeneutik betreffend ist die ,Geschichte der Leben-Jesu-Forschung
' gegenüber ,Von Reimarus zu Wrede' ein wesentlich
anderes Buch" (218).

Im Kapitel XXIII der LJF, einem der drei Nachtragskapitel,
die sich vorwiegend mit der Bestreitung der Historizität Jesu
auseinandersetzen, fordert Schweitzer: „Die Religion muß über
eine Metaphysik, das heißt eine Grundanschauung über das
Wesen und die Bedeutung des Seins verfügen, die von Geschichte
und überlieferten Erkenntnissen vollständig unabhängig
ist und in jedem Augenblick und in jedem religiösen Subjekt
neu geschaffen werden kann". Für Schweitzer ist die religionsphilosophische
Frage wesentlich wichtiger als die historische
. Er schreibt: „Der Herr kann immer nur ein Element der
Religion sein; nie darf er als Fundament ausgegeben werden".
Ebenso wie Ernst Troeltsch lehnt Schweitzer den damals in der
Schule A. Ritschis vielzitierten Satz ab: „Ohne Jesus wäre ich
Atheist".