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Ausgabe:

1993

Spalte:

899

Autor/Hrsg.:

Möller, Bernd

Titel/Untertitel:

- 904 Eine neue "Geschichte des Christentums" 1993

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899

Theologische Literaturzeitung I 18. Jahrgang 1993 Nr. 11

900

Bernd Moeller
Eine neue „Geschichte des Christentums'

Dieses neue Werk ist mit lauten, um nicht zu sagen schrillen
Tönen angekündigt worden. Laut Verlagsprospekt handelt es
sich um „eines der umfassendsten Unternehmen der Historiographie
", „die erste Universalgeschichte des Christentums mit konsequent
ökumenischer Ausrichtung", „ein kulturelles Ereignis,
für das es keine Entsprechung gibt", einen „Höhepunkt der Geschichtsschreibung
für das 3. Jahrtausend". 14 Bände soll es
umfassen mit jeweils ca. 1000 Seiten im Großformat, in Deutschland
, Frankreich und Italien zugleich erscheinen, bis etwa 1997
abgeschlossen sein und in der Subskription 2.772,- DM kosten.
In den äußeren Ausmaßen dürfte es hierzu in der Tat keine Analogie
geben - selbst kirchenhistorische Riesenwerke der Vergangenheit
wie die Magdeburger Zenturien und Baronius, Fleury
und Arnold bleiben zurück, von den Büchern des 20. Jh.s ganz zu
schweigen.

Wer sich von den bombastischen Werbesprüchen, die das
Werk einführen, und den bedrohlichen Dimensionen, in denen
es sich präsentiert, nicht davon abschrecken läßt, es genauer in
Augenschein zu nehmen, darf sich auf Überraschungen einstellen
, und zwar überwiegend angenehme. Die drei Bände, die
dem Zeitplan getreu inzwischen erschienen sind (zwei davon
mit Überschreitung der Umfanggrenzen), zeigen, daß es sich
um ein Unternehmen mit wissenschaftlichem Niveau handelt
und daß es von den Gelehrten mit klangvollem Namen, die verantwortlich
zeichnen, auch wirklich gestaltet wird. Man findet
lesbare Texte und eine reiche Ausstattung mit Abbildungen, die
zwar technisch nicht immer einwandfrei, aber durchweg sachbezogen
, sorgfältig und interessant in die historische Darstellung
eingefügt sind. Man hat es mit einer seriösen Publikation
zu tun - ob und wieweit sie, wie angekündigt, eine „völlig neue
Sicht der Geistes- und Weltgeschichte" bietet, wird zu prüfen
sein.

L

Band VI ist der in der Reihenfolge des Erscheinens und hinsichtlich
des dargestellten Zeitraums erste der drei Bände. Er
beginnt mit einem isolierten Abschnitt über das Jahr 1274 und
das kirchengeschichtliche Ereignis jenes Jahres, das II. Konzil
von Lyon - programmatisch, wie bei näherem Zusehen erkennbar
wird; denn die auf jenem Konzil für kurze Zeit vereinbarte
Union der Kirchen in West und Ost gibt eine Leitfrage für den
ganzen Band her. Dieser ist in drei große Teile gegliedert, die
sich, jeweils fragend, an den Notae ecclesiae Einheit, Heiligkeit
und Katholizität orientieren. Und jedes der Einzelkapitcl, in
denen das kirchliche Leben als ganzes geschildert wird, enthält
einen Abschnitt über die Kirchen des Ostens.

Der I. Teil handelt zunächst von Aufbau und Institutionen der
römischen Kirche, wobei die avignonesische Periode und die
Zeit des Schismas und der Konzilien getrennt werden. Einem
umfangreichen Abschnitt über Byzanz folgt ein solcher über die

* Die Geschichte des Christentums. Religion - Politik - Kultur. Hg. von
J. M. Mayeur, Ch. Pietri, A. Vauchez, M. Venard. Deutsche Ausg. hg. von
N. Brox, O. Engels, G. Kretschmar, K. Meier, H. Smolinsky. Bd. 6: Die Zeit
der Zerreißproben (1274-1449). Hg. von M. Mollat du Jourdin u. A. Vauchez
. Deutsche Ausg. hearb. u. hg. von B. Schimmelpfennig. Aus dem
Franz. von M. Oschwald. XX, 912 S. m. zahlr. Abb. u. Ktn, zahlr. Farbtaf.
Lw. DM 198,-. Bd. 8: Die Zeit der Konfessionen (1530-1620/30). Hg. von
M. Venard. Deutsche Ausg. bearb. u. hg. von H. Smolinsky. XX, 1260 S. m.
zahlr. Abb.. zahlr. färb. Taf. Lw. DM 198,-. Bd. 12: Erster und Zweiter
Weltkrieg - Demokratien und totalitäre Systeme (1914-1958). Hg. von J.-M.
Mayeur, Dt. Ausg. bearb. u. hg. von K. Meier. XVI, 1248 S. m. zahlr. Abb.
u. Taf. z.T. färb.. Lw. DM 248,-. Freiburg-Basel-Wien: Herder 1991/92.
gr.8°. ISBN 3-451-22262-0.

orientalischen Nationalkirchen und die Christenheit im Grenzgebiet
von Byzanz und Rom. Sodann werden ekklesiologische
Konzeptionen des Abendlandes geschildert sowie Protest- und
Häresiebewegungen der Zeit, von den Waldensern bis zu den
Hussiten. Im II. Teil geht es unter dem Titel „Heilige Kirche?"
um das geistliche Leben. Charakteristisch werden dabei zunächst
die Normen („Glaubensvermittlung", „Heilswege"),
dann die Zustände („Sitten und Moral", „Heiligung") behandelt.
Schließlich folgen im III. Teil (..Katholische Kirche?") Schilderungen
der politischen Kirchengeschichte, zunächst auf der
Ebene des Papsttums, sodann in den einzelnen Nationen Europas
, wobei kein Land unbeachtet bleibt und auch die Außenbeziehungen
der lateinischen Christenheit - zu den Kirchen des
Ostens, zu Arabern und Juden - nicht vergessen sind.

Überblickt man den Band als ganzen, so fällt seine mehrschichtige
Anlage, man könnte sagen: das Bemühen um eine
»histoire totale« der Kirche, ins Auge. Eine gewisse Schwerfälligkeit
der Darstellung ist hierfür in Kauf zu nehmen; Wiederholungen
sind häufig, immer noch einmal kommen bestimmte
Zusammenhänge und Ereignisse zu Gesicht, womöglich von
neuer Seite beleuchtet. Unter diesen Umständen ist das Register
, das nur die Personen, ohne jede Verfeinerung, verzeichnet,
unbefriedigend.

Einige Abschnitte sind von hervorragender Qualität. Das gilt
für die verschiedenen Beiträge des Altmeisters der Avignoneser
Papsthistorie, Bernard Guillemain, in besonderem Maß, auch
für die Kapitel zur Frömmigkeitsgeschichte von Andre Vauchez
. Eine gewisse Neigung, die Konturen der Zeit abzuschleifen
, ist andererseits verbreitet - die Tiefe und Dramatik der kirchenpolitischen
Konflikte, die Schrecken der individuellen Zukunftsvisionen
, die Härte kirchlicher Aktionen und die Radikalität
ketzerischer Proteste werden nicht immer gewürdigt, Ausmaß
und Ernsthaftigkeit kirchlicher „Reformen" vielleicht
überbetont.

Der Band endet mit einem aufschlußreichen „Rückblick", in
dem einer der Herausgeber, Michel Mollat du Jourdin. ein der
systematischen Anlage des Ganzen entsprechendes, anspruchsvolles
Fazit zieht. Die historischen Erscheinungen dieses bewegten
Zeitalters werden auf die Identität der Kirche als „der
durch die Jahrhunderte in der Welt fortbestehende Leib Christi"
hin befragt, und der Vf. kommt zu einem überraschend positiven
Ergebnis: „Wir sehen die Kirche festgegründet in ihren beiden
Dimensionen, der vertikalen und der horizontalen - vertikal
in der im großen und ganzen gelungenen Erhaltung der zur
Macht Petri gehörenden Hierarchie; horizontal dank der in
modifizierter oder gereinigter Form erfolgten Aufnahme der im
14. Jahrhundert virulenten Gedanken und Vorstellungen zur
congregatio fidelium". Daß der Ausblick auf die Reformation,
mit dem das Buch schließt, bei so harmonischer und „ekklesia-
stischer" Geschichtsbetrachtung kritisch (und auch etwas simpel
) ausfällt, liegt nahe: „Der große Riß des 16. Jahrhunderts erscheint
... als eine Umwälzung von dramatischen Ausmaßen, aus
der sich Gewinn hätte ziehen lassen können, wenn die Menschen
nur etwas weniger starrsinnig gewesen wären". Ob der
Band VII des Werkes, der die Reformation behandeln wird, diesen
Faden aufnimmt, wird man zur gegebenen Zeit sehen.

II.

Vorläufig kann man sich mit dieser Frage an Band VIII halten
, der das konfessionelle Zeitalter von 1530 bis 1620 darstellt.
Er ist dadurch stark geprägt, daß in ihm auch evangelische
Historiker und Kirchenhistoriker ausführlich zu Wort kommen